Die Bilder sind verstörend. Ganze Strandabschnitte übersät mit Plastiktüten und Plastikflaschen. Der „Große Pazifische Müllstrudel“, ein Müllteppich im Meer, viereinhalbmal so groß wie die Fläche Deutschlands. Oder der Pilotwal, der Anfang Juni in Thailand mit 80 Plastiktüten im Magen elend starb.
Die Plastikflut ist längst zur globalen Katastrophe geworden. Auch, weil kleinste Plastikteilchen – so genanntes Mikroplastik – über Fische in die Nahrungskette des Menschen gelangt. Minipartikel wurden inzwischen in Lungen und Blutbahnen nachgewiesen.
Jede Sekunde 700 Kilo Plastikmüll in die Weltmeere
Unvorstellbar die Zahlen: Laut EU-Kommission landen in jeder Sekunde 700 Kilo Plastik in den Weltmeeren. Dort sollen nach Schätzungen mittlerweile bis zu 142 Millionen Tonnen treiben. Allein in der EU werden nach Kommissionsangaben jährlich rund 26 Millionen Tonnen Plastikmüll produziert – und nur knapp 30 Prozent davon wiederverwertet. Der Rest landet auf Mülldeponien, in Müllöfen oder eben in der Umwelt.
Die EU will nun massiv gegensteuern. „Wir müssen verhindern, dass Plastik in unser Wasser, unser Essen und sogar unsere Körper kommt", sagte Kommissionsvize Frans Timmermans zu Jahresbeginn. Deshalb sollen sämtliche Plastikverpackungen in Europa bis 2030 wiederverwertbar werden.
EU greift mit Gesetzesvorstoß ein
Dieses Ziel gehört zur Strategie der EU-Kommission, um Plastikabfälle zu verringern, Recycling zu fördern und die Umwelt besser zu schützen. Ende Mai hat die Kommission einen ersten Gesetzesentwurf für ein teilweises Verbot von Einwegplastik vorgelegt.
Eine praktische Hilfestellung bei ihrer Strategie könnte die EU-Kommission in Würzburg finden. Hier, am Fraunhofer-Institut für Silicatforschung (ISC), beschäftigt sich die promovierte Chemikerin Sabine Amberg-Schwab samt Team seit Jahren mit sogenannten Barriereschichten für die Verpackung von Lebensmitteln und für verschiedene technische Anwendungen. Diese Schichten, gerade einmal zwei Tausendstel Millimeter dick, machen Verpackungsfolien widerstandsfähig und sehr undurchlässig – etwa für Feuchtigkeit, Sauerstoff, Kohlendioxid oder Aromastoffe.
Durch Bio-Schutzschicht komplett kompostierbare Verpackung
Und noch besser: Amberg-Schwab ist es nun gelungen, kompostierbare Barriereschichten zu entwickeln. Ein ökologischer Durchbruch. Denn damit können künftig Verpackungsmaterialien auf Basis nachwachsender Rohstoffe verwendet werden – so genannte Biopolymere. Die Verpackung ist also komplett kompostierbar.
„Das weltweite Problem des Verpackungsmülls hat uns hier im Fraunhofer ISC nicht mehr losgelassen und wir haben nach einer Lösung gesucht“, beschreibt Amberg-Schwab ihre Motivation. Für ihre Entwicklung einer kompostierbaren Schutzschicht – eingetragen unter dem Markennamen „bioORMOCER“ – wurde sie Anfang des Jahres mit einem Innovationspreis (Circular Materials Challenge) der Ellen MacArthur-Stiftung ausgezeichnet, dotiert mit 200 000 Euro.
Hohe Auszeichnung für Forscherin Sabine Amberg-Schwab
Verliehen wurde ihr einer von fünf Preisen am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. Verbunden ist damit ein Programm, um die Erfindung gemeinsam mit Firmen auf den Markt zu bringen. Auch Kompostieranlagen müssten sich auf diese besondere Art von Bio-Kunststoff erst vorbereiten.
Die im Würzburger Fraunhofer-Institut entwickelte Funktionsschicht könnte die Verpackungsindustrie revolutionieren, zumal sie nicht nur die Lebensmittel schützt. „bioORMOCER“ sorgt auch dafür, dass sich die eigentliche Öko-Verpackungsfolie nicht vorzeitig zersetzt.
„Umweltbelastung durch den Verpackungsmüll verringern“
Der Leiter des Fraunhofer ISC, Professor Gerhard Sextl, ist stolz auf den Preis der MacArthur Foundation – „stolz darauf, mit unseren Arbeiten dazu beitragen zu können, dass sich zukünftig die Umweltbelastung durch den Verpackungsmüll verringert.“
Noch sind heute viele Plastikverpackungen laminiert oder kombiniert – und als Verbundstoffe nicht mehr zu recyceln. Dagegen ist „bioORMOCER“ biologisch abbaubar. Amberg-Schwab spricht von einem „Hybridwerkstoff aus organischen und silikatisch-glasartigen Elementen“. Das Geheimnis: Es werden wichtige Eigenschaften kombiniert, wobei erst der organische Anteil die Barrierefunktion des anorganischen Anteils richtig nutzbar macht.
Lebensmittelabfälle aus Ausgangsstoff für neue Schutzschicht?
Hergestellt werden die Bio-Schutzschichten aus Quellen biologischen, zum Beispiel pflanzlichen, Ursprungs. Wird dann bei einer Massenproduktion nicht wertvolle Anbaufläche für Lebensmittel verbraucht? Amberg-Schwab will genau dieses Szenario – man denke an die Debatte um Biodiesel – vermeiden.
Mit ihrem Team wird deshalb auch an Verfahren gearbeitet, um die Ausgangsstoffe für die Schutzschicht aus Nebenprodukten der Lebensmittelherstellung beziehungsweise aus Lebensmittelabfällen zu gewinnen.
EU-Richtlinie gegen Einwegtüten zeigt Wirkung
Was die schnelle und serienmäßige Einführung der Öko-Verpackung auf dem Markt behindert: Herkömmliches Plastik auf fossiler Basis ist günstig, weil die Herstellung über Jahrzehnte optimiert wurde und Öl als Ausgangsstoff billig ist. Ein steigender Ölpreis würde normales Plastik verteuern – oder es greifen eben Vorgaben der EU. „Ja, sie könnten helfen“, ist Amberg-Schwab überzeugt. So wie die EU-Richtlinie gegen Wegwerftüten: Seit sie nicht mehr kostenlos abgegeben werden, sinkt der Verbrauch. Laut Handelsverband HDE wurden 2017 in Deutschland zum zweiten Mal in Folge um ein Drittel weniger Plastiktüten verwendet.
Natürlich wären abbaubare Verpackungen zunächst teurer, solange die großen Mengen fehlen. Dennoch ist die Würzburger Forscherin überzeugt, dass viele herkömmliche Verpackungen durch kompostierbares Material ersetzt werden könnten. Gleichzeitig will sie nicht ideologisch argumentieren, will Plastik nicht per se verteufeln. Das Wichtigste aus ihrer Sicht: „Kunststoffe möglichst lange im Kreislauf zu halten“ – Plastikflaschen also länger zu nutzen und mehr zu recyceln.
Hersteller von Plastikprodukten sollen auch Entsorgung sichern
Geht es nach der EU-Kommission, soll in Zukunft das Herstellerprinzip greifen: Der Produzent wäre dann auch für die Entsorgung von Plastikmüll verantwortlich und soll sich an Umweltsäuberungen beteiligen. Bei derlei Steuerung könnten kompostierbare Verpackungen für die Industrie bald interessant werden. Im Würzburger Fraunhofer-Institut für Silicatforschung steht man bereit – und freut sich auf die kompostierbare Chipstüte im Handel.