
Mathematische Probleme sind nicht gerade der unterhaltsamste Stoff für Partygespräche. Stochastik? Partielle Differenzialgleichungen? Puhh, Themenwechsel. Auch Pressemitteilungen aus der Mathematik haben meist eher unpopulären Charakter und wenig mit spannenden oder gar sensationellen Meldungen aus Biologie, Physik, Medizin gemein. Die Mathematik entdeckt keine neuen Arten in Flora und Fauna, erforscht keine Planetensysteme und unendliche Universen und entwickelt auch keine neuen Medikamente gegen Krebs. Doch wenn die Nachricht heißt „Mathematiker modellieren Fußgängerströme mit der Spieltheorie“ und dann in der Pressemitteilung noch von „Kollisionskurs“ die Rede ist – dann ist zumindest die Neugier geweckt. „Wie verhalten sich Fußgänger in einer großen Menge? Wie vermeiden sie Kollisionen? Wie lassen sich ihre Wege modellieren? Antworten auf diese Fragen gibt ein neuer Ansatz von Mathematikern aus Würzburg und Nizza“, schreibt die Pressestelle der Würzburger Universität. Da will man doch mehr wissen. Also los.
„Mathematik! Die abstrakteste Kunst. Die praktischste Wissenschaft“
Besuch bei Professor Alfio Borzi vom Lehrstuhl für Mathematik IX, dem Lehrstuhl für Wissenschaftliches Rechnen. Was erforschen Sie da, was haben Sie herausgefunden? Und was ist denn ihr neuer Ansatz? Alfio Borzi empfängt in seinem Büro am Hubland, an der Wand freundliche Bilder, in der Ecke ein großes rotes Sofa, auf dem Tisch die bekannten Schokoladennusskugeln im Goldpapier. Bitte, greifen Sie zu, sagt der Professor. An die Tür hinter seinem Schreibtisch hat Borzi mit Kreide geschrieben, was das Fach, das er lehrt, für ihn bedeutet: „Mathematik! Die abstrakteste Kunst. Die praktischste Wissenschaft“.
Und eben auch eine Wissenschaft, mit der man fragen kann, was passiert, wenn sich Fußgänger begegnen. Die Situation kennt jeder: Man geht über einen Platz, ein anderer Passant kommt entgegen. Wer weicht wem aus? Wie läuft man, damit man nicht zusammenstößt? Mit der Frage, wie sich Menschen in solchen Situationen verhalten, beschäftigen sich Forscher schon seit langem, nicht nur in der Psychologie. Sondern beispielsweise auch bei der Stadtplanung, wenn es darum geht, öffentliche Plätze möglichst verkehrsgünstig zu gestalten oder Fluchtwege so anzulegen, dass sie bei einer Massenpanik nicht zu einer tödlichen Falle werden.
Komplexe Welt in möglichst einfachen Formeln
Auch Alfio Borzi interessiert sich dafür. Genauso, wie er sich für den Vogelflug, den Einlasskanal eines Zylinderkopfes in Motoren, für Aktienkurse, elektrische Erregungswellen im Gehirn und im Herzmuskelgewebe oder für Gärprozessen in Wein und Biogas interessiert. Der Mathematiker versucht, die Komplexität der Welt in möglichst einfachen Formeln zu erfassen und verständlich zu machen. Er will Modelle entwickeln, die zeigen, was passieren wird. Modelle, in der der Zufall eine große Rolle spielt, die aber trotzdem Simulationen erlauben, egal ob für Herzmuskeln, Weinfässer oder Gehwege.
Er sagt: „Man kann mit dem Unerwarteten rechnen.“ Und mit dem Zufall. Und er sagt: „Wir haben die Gleichungen, die beschreiben, was die Leute tun.“
Zur Verdeutlichung schnappt er sich ein Blatt Papier, zeichnet Linien, skizziert die Laufwege von Fußgängern, die mit Geschwindigkeit X von A nach B und mit Geschwindigkeit Y von B nach A wollen, und beginnt Formeln aufzumalen. Er hat mit seinem Postdoc Souvik Roy und dem französischen Kollegen Abderrahmane Habbal versucht, die menschlichen Wege in Formeln zu erfassen.
„Avoidance ist der wichtigste Faktor“, sagt Borzi, „Vermeidung.“ Niemand wolle auf seinem Weg von A nach B mit einem Entgegenkommenden zusammenstoßen. „Wenn sich die Wege von zwei Fußgängern kreuzen, geht es im Prinzip immer um die Frage: Wie sieht die optimale Lösung dieses Konflikts aus, die für beide zufriedenstellend ist?“
Rechnen mit den Störungen
Stur geradeaus gehen? Die schlechteste Lösung für beide. Wenn einer von seinem Kurs abweicht? Fühlt er sich vielleicht im Nachteil. Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich Menschen in solch einer Situation verhalten können, eine rein „mechanische“ Beschreibung der Situation hilft deshalb nicht weiter. Mit seinen Kollegen hat Borzi – und das ist der neue Ansatz – deshalb die Spieltheorie einbezogen. „Die Spieltheorie sagt: Ein Mensch hat ein Ziel, das er möglichst optimal erreichen will. Idee ist, dass alle versuchen, die optimalen Regeln zu finden.“
Die kurzen Formeln, die Borzi aufs Papier geschrieben hat, werden länger. Ein Faktor für die kleinen Störungen kommt hinein: Bremsen, Beschleunigen, Abweichungen, unebener Belag.
Die Spieltheorie geht auf John F. Nash zurück. „Den kennen Sie sicher aus dem Kinofilm“, sagt Borzi. „A beautiful Mind“ von Ron Howard aus dem Jahr 2001 skizzierte die Lebensgeschichte des Mathematikers, der unter Schizophrenie litt und Spezialist für partielle Differenzialgleichungen war. Ein zentraler Begriff seiner Spieltheorie ist das so genannte Nash-Gleichgewicht.
„Das ist genau dann erreicht, wenn in einem Spiel jeder Spieler genau die Strategie wählt, die ihm und allen Mitspielern die optimale Lösung bietet“, sagt Borzi. „Jeder bekommt das Bestmögliche, so dass alle zufrieden sind“.
„Man kann nur Wahrscheinlichkeiten berechnen“
Das reicht freilich noch nicht, um die Laufwege von Passanten zu erfassen. Was ist mit dem Zufall? Borzi und seine Kollegen kombinierten den Ansatz der Spieltheorie mit einer anderen wichtigen mathematischen Gleichung: der Fokker-Planck-Gleichung, die auf Albert Einstein zurückgeht. Noch ein Blatt Papier. Statt Linien zeichnet Borzi zur Erklärung jetzt Kügelchen und Kreise. Denn besagte Formel beschreibt unter anderem, über welche Strecken vergleichsweise große Partikel von winzigen Molekülen „herumgeschubst“ werden. Der Gleichung liegt eine Beobachtung des schottischen Botanikers Robert Brown zugrunde. Der hatte 1827 Blütenstaub unter dem Mikroskop untersucht und war über die zuckenden Bewegungen der Pollen im Wassertropfen verwundert. Völlig unregelmäßige, zufällige Bewegungen. „Keiner weiß, wo ein bestimmtes Teilchen in einer Sekunde sein wird“, sagt Borzi. „Man kann nur Wahrscheinlichkeiten berechnen.“
Mit eben der Fokker-Planck-Gleichung, die die Wahrscheinlichkeit aller Verschiebungsprozesse, also aller mögliche Bewegungen eines Körpers von A nach B, beschreibt. Kombiniert mit der Spieltheorie, so der Ansatz des Mathematikers, könne sie auch die Bewegung von größeren Menschenmengen modellieren.
Mathematische Modelle im Weinfass
In den vergangenen vier Jahren hat sich der italienische Wissenschaftler, der Mathematik auch in kleinen Youtube-Filmen für jedermann erklärt, mit den Gärprozessen beim Keltern beschäftigt. Mit Kollegen der Unis in Geisenheim und Trier – also von Rhein und Mosel – entwickelten die Würzburger Mathematiker im Projekt des Bundesforschungsministeriums Modelle, mit denen der Prozess der Weingärung und der Biogasproduktion besser verstanden und gesteuert werden kann.
Das Ziel: mehr Aroma beim Wein, eine höhere Energieausbeute beim Biogas. Zuckergehalt, Hefegehalt, Temperatur, Alkohol, Sauerstoff, Säure, Aroma – „wir haben die gängigen chemischen Modelle komplexer gemacht“, sagt Borzi.
Entwickeln und überprüfen konnten die Mathematiker ihre Formeln und Simulationen direkt am Fass, bei den Winzern der Landesanstalt für Wein und Gartenbau LWG in Veitshöchheim. Ihre Formel für die Fußgängerwege überprüften sie anhand von Experimente, die Psychologen gemacht hatten. Ergebnis: Zumindest wenn zwei Personen einen Raum durchqueren und sich ihre Wege kreuzen, funktioniert die neue Gleichung zuverlässig. Die real zurückgelegten Wege stimmen mit den mathematisch errechneten Kurven. überein.
Mehr Spieltheorie für die Biologie
Verblüffend? Nicht für Borzi. Zum Abschied gibt er noch Schokokugeln mit au den Weg. Und sagt: „Es zeichnet sich in der aktuellen Forschung ab, dass immer mehr Bereiche aus der Biologie sich mit der Spieltheorie beschreiben lassen.“ Das könnte der Mathematiker auch auf einer Party unterhaltsam erklären.