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Würzburger Experte: „Bevölkerungswachstum bedrohlich“
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Andreas Jungbauer
 |  aktualisiert: 27.04.2023 06:13 Uhr

Er hat erlebt, was ernsthafte Programme für Familienplanung leisten können: Dr. Dieter Ehrhardt war einst für die UNO in der Karibik, in Kenia, in der Türkei und im Pazifik dafür zuständig. Der 83-jährige frühere Mitarbeiter im Entwicklungshilfe-Ministerium BMZ und bei der UNO hat aber auch den negativen Einfluss des Vatikan auf die Geburtenkontrolle erfahren – und kritisiert ihn scharf.

Ehrhardt lebt heute in Zell (Lkr. Würzburg). Den zunehmenden Migrationsdruck hält er für die Folge eines kaum gebremsten Bevölkerungswachstums im Süden. Die Geburtenrate ist zwar auch in Afrika rückläufig, bewegt sich aber weiter auf hohem Niveau. 2,5 Milliarden Menschen sollen laut UNO im Jahr 2050 auf dem Kontinent leben– ein gutes Viertel der Weltbevölkerung.

Frage: Herr Ehrhardt, die Weltbevölkerung wächst weiter – und nirgends so schnell wie in den afrikanischen Ländern. Was bedeutet das für den Kontinent und für die Welt?

Dieter Ehrhardt: Manches ist spekulativ. Nehmen Sie Indien im Jahr 1960. Damals zählte das Land 350 Millionen Einwohner. Hätte jemand prognostiziert, dass sich die Bevölkerung auf 700 Millionen verdoppelt, hätten Experten garantiert Mord, Totschlag und größtes Massenelend vorausgesagt. Heute sind wir dort bei 1,3 Milliarden Menschen und Hunderte von Millionen leben weitgehend von Betelnüssen – spottbillig, appetitzügelnd, fast ohne Nährwert und krebserregend.

Wie viele Menschen verträgt denn der Globus?

Ehrhardt: Die Antwort darauf hängt vom Lebensstandard ab, den die Menschen haben wollen. Unser westlicher Lebensstil überall auf der Welt? Das wäre nicht machbar.

Zigtausende machen sich aus Afrika auf den gefährlichen Weg nach Europa. Auch eine Folge des weiter zunehmenden Bevölkerungsdrucks?

Ehrhardt: Absolut. Warum sollten Menschen aus den verschiedensten Ländern Afrikas sonst fliehen? Sie sehen keine Lebensperspektive mehr, wenn sich die Ressourcen immer weiter verknappen und der erforderliche Aufbau von Industrie nicht stattfinden kann. Im Vergleich dazu leben wir in Europa im Überfluss. Die Fliehenden hoffen hier auf eine gesicherte Existenz.

Zum meiner Zeit in Kenia Anfang der 80er Jahre gab es zwei Slums am Stadtrand von Nairobi. Heute sind es elf. Und Clan-Chefs, die einzelne Mitglieder beauftragen, Unliebsame gegen Bezahlung von fünf Euro abzustechen, gab es früher auch nicht.

Warum haben die Familien weiterhin so viele Kinder, wenn es die Ressourcen doch nicht hergeben?

Ehrhardt: Ein Faktor ist gewiss eine noch hohe Kindersterblichkeit. Eltern rechnen damit, dass sie zwei oder drei von acht Kindern sehr früh durch Krankheit verlieren.

Welche Rolle spielt die Altersversorgung durch die Kinder, wo es an staatlichen Sicherungssystemen fehlt?

Ehrhardt: Zumindest in Afrika spielt für die Sicherung im Alter die Großfamilie, also der Clan, eine deutlich größere Rolle als die eigenen Kinder. Ein Arzt aus Ghana, den ich über die Familienplanung kannte, hat mir einmal von seiner 135-köpfigen Großfamilie berichtet, für die er finanziell verantwortlich sei. Das ist das Sicherungssystem.

Welche Faktoren begünstigen dann die hohe Geburtenrate? Weil man die Kinder zum Arbeiten auf dem Feld braucht?

Ehrhardt: Das spielt gewiss eine Rolle. Aber ich denke, dass die materielle Armut generell entscheidend ist. Wo Menschen einen Mindeststandard erreicht haben, achten sie darauf, ihn nicht mehr zu verlieren. Auch durch Geburtenkontrolle. Nur fehlt es vielen Paaren schlicht an Verhütungsmitteln.

Das heißt, der Wille wäre da...?

Ehrhardt: Die UNO sprach früher von 300 Millionen, heute von 200 Millionen Paaren in den Entwicklungsländern, die liebend gerne verhüten würden, aber nicht können – weil sie die Mittel nicht bekommen und kein Geld haben, um sie zu kaufen. Schon 1975 war die Zwei-Kind-Familie in den Entwicklungsländern angestrebt – und dafür sollten sämtliche nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Dann aber kam Kardinal Wojtyla und sagte mit Duldung Paul VI. „geht nicht“.

Aber lässt sich ein deutsches Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit heute noch vom Vatikan beeinflussen?

Ehrhardt: Ob heute noch, kann ich nicht beurteilen. Aktuell liegt die bilaterale Hilfe aus dem BMZ für Familienplanung bei 100 Millionen Euro, das ist umgerechnet nur ein gutes Prozent des Gesamthaushaltes und viel zu wenig. Die UNFPA, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, hatte seit Ende der 80er Jahre die Zuteilung von vier Prozent der Entwicklungshilfe-Etats für Familienplanung gefordert. So viel müsste investiert werden, um tatsächlich eine Wirkung zu erzielen. Das aber ist nicht passiert, global wird immer noch zu wenig dafür ausgegeben.

Warum nicht?

Ehrhardt: Das ist die Gretchenfrage. In der Vergangenheit hat der Vatikan, vor allem zu Zeiten Karol Wojtylas als Papst Johannes Paul II., nachweislich starken politischen Einfluss auf Regierungen, angefangen mit der US-amerikanischen, genommen, um die Finanzierung von Familienplanung durch Verhütungsmittel zu verhindern. Auch auf deutsche Entwicklungsminister wurde Druck ausgeübt.

Aber hatte die berühmte Enzyklika „Humanae Vitae“ tatsächlich weltweit so einen starken Einfluss?

Ehrhardt: Das muss man relativieren. Laut einer aktuellen Umfrage des Vatikans unter Franziskus fühlt sich nur ein Zehntel der Katholiken an die Sexualmoral der Kirche gebunden. Insofern ist deren Wirkung gering. Einen viel stärkeren Effekt hatte der politische Einfluss, den der Vatikan weltweit auf Regierungen gegen die Finanzierung von Verhütung genommen hat.

Das ist keine Verschwörungstheorie?

Ehrhardt: Nein, natürlich nicht. Der Einfluss ist dokumentiert, ich zeige das in meinem Buch. So wurde auf Betreiben des Vatikan bei der letzten Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 der Begriff „Familienplanung“ ersetzt durch „Reproduktive und sexuelle Gesundheit und Rechte“. Damit konnte dann keiner mehr was anfangen. Stellen Sie sich vor, man würde den Begriff Margarine durch „perspektivisch-pflanzliche Auspressung“ ersetzen.

Ich bin mir sicher: Wenn der Vatikan die Finanzierung von Familienplanung nicht weiter untergraben würde, könnte sich die Weltbevölkerung zumindest stabilisieren. Die Verhütungsmittel müssen angeboten werden. Dass Programme der Familienplanung greifen, haben wir in der Karibik mit einem großen Projekt unter Leitung des Jamaikaners Prof. Hugh Wynter an der Universität in Kingston gezeigt. Es lief 20 Jahre und die Zahl der Kinder pro Frau ging in dieser Zeit von vier auf zwei zurück. Ein weiteres Beispiel: In Thailand hat der Politiker Mechai Viravaidya („Mr. Condom“) das staatliche Familienplanungsprogramm ins Leben gerufen mit dem Ergebnis, dass die Zahl der Kinder pro Frau von sieben auf 1,5 fiel.

Setzen Sie bei der Familienplanung auf staatlichen Zwang oder Freiwilligkeit?

Ehrhardt: Es geht nur mit Überzeugung, nicht mit Gesetzen. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sollten hier behilflich sein. Im Gespräch ließen Erzbischof Carter von Jamaika und Kardinal Otunga in Kenia erkennen, dass sie keine Einwände gegen Verhütungsmittel hatten. Es würde aber schon reichen, wenn der Vatikan die Linie von Papst Johannes Paul I.,

dem 33-Tage-Papst, aufgreifen würde, „in politische Entscheidungen von Regierungen (wie die Finanzierung von Familienplanungsprogrammen) nicht einzugreifen“.

Wie sehen Sie bei dem Thema die Rolle von Papst Franziskus?

Ehrhardt: Er hat bei seiner ersten großen Auslandsreise auf den Philippinen die große Katastrophe erlebt – ein Bevölkerungswachstum von 20 auf 100 Millionen Menschen. Auf dem Rückflug fiel gegenüber Journalisten sein Satz: „Gute Katholiken müssen sich nicht wie Karnickel vermehren“, was sich nur unter Einbeziehung von Verhütungsmitteln erreichen lässt. Einen solchen Satz von ihm haben Sie aber nie mehr gehört. Ich fürchte, dass hier die konservativen Kräfte im Vatikan eingegriffen haben. Wobei klar ist: Wenn Sie das Bevölkerungswachstum stoppen wollen, muss man auch künstliche Verhütungsmittel dazunehmen. Nur so wäre die Vorstellung des Papstes – drei Kinder pro Familie – realistisch.

In der viel beachteten Umweltenzyklika „Laudato si“ mahnt Franziskus zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den globalen Ressourcen. Die Geburtenkontrolle zählt er nicht dazu...

Ehrhardt: Das bleibt in dieser Enzyklika rätselhaft. Der Papst misst darin der Reduzierung der Geburtenrate keine Bedeutung bei und wirft den Industrieländern vor, die Entwicklungsländer mit Forderungen nach Familienplanung unter Druck zu setzen. Er will vermeiden, dass sich die Industrieländer mit ihrem exzessiven Konsumverhalten aus der Verantwortung stehlen. Aber die Geburtenkontrolle zu verdrängen, ist fatal.

Obwohl das Problem seit Jahrzehnten bekannt ist, gibt es global keinen Kurswechsel. Wie geht es Ihnen dabei, wo sie selbst Lösungen mitgestaltet haben?

Ehrhardt: Klar könnte ich daran verzweifeln. Aber was bringt das?

Was ist denn die Perspektive, wenn die Weltbevölkerung weiter wächst?

Ehrhardt: Die fortdauernde Bevölkerungsexplosion wird internationalen Frieden unmöglich machen. Es drohen Bürgerkriege, es wird an Rohstoffen fehlen und zu Verteilungskriegen kommen. Ganze Volkswirtschaften können durch das Verpuffen von Absatzmärkten mangels Kaufkraft in den Entwicklungsländern implodieren, es droht Hunger unvorstellbaren Ausmaßes und Seuchen – vom Verfall der Werte, siehe das Beispiel aus Kenia – nicht zu reden.

Das Buch von Dieter Ehrhardt mit dem Titel „Familienplanung: Das Fiasko der Entwicklungspolitik“ ist erhältlich im Würzburger „Weltladen“ (Plattnerstr. 14), oder Bestellung per E-Mail: buch@fred-harter.de

Dr. Dieter Ehrhardt

Der heute 83-Jährige war 15 Jahre lang für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UN) tätig und verantwortlich für Familienplanungsprogramme in der Karibik (1975-1980), Kenia (1980-1984), in der Türkei (1984-1988) und im Südpazifik (1988-1990). Für die Aufgabe hatte ihn das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) freigestellt. Dort war Ehrhardt seit 1974 stellvertretender Referatsleiter für Bevölkerungspolitik und Familienplanung. Von 1992 bis 1995 war er Sachverständiger für Bevölkerungspolitik und Familienplanung für die 69 AKP-Staaten in der EU-Kommission in Brüssel. Dieter Ehrhardt wurde 1934 in Landsberg an der Warthe (Polen) geboren und studierte Jura, Volkswirtschaft und Philosophie u.a. in Frankfurt/Main. 1969 promovierte er über den „Begriff des Mikrostaats im Völkerrecht und in der internationalen Ordnung“.   aj
Dieter Ehrhardt
Foto: Patty Varasano | Dieter Ehrhardt
 
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  • RolandHerterich
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  • wwl43
    Bildung allein hilft auch nicht, denn in den Staaten mit hohen Geburtenraten fehlen die prestigeträchtigen Positionen für relativ gut ausgebildete Menschen, wie Gunnar Heinsohn seit langem belegt. Kulturelle Strukturen, religiöse und ideologische Ansprüche kommen hinzu.
    Folgen sind Unruhen, Bürgerkriege, Völkerwanderungen - mit Destabilisierung von Gesellschaften und Kriegen weltweit. Hinzu kommen religiöse und ideologische Vorstellungen, die aus Zeiten dünner Besiedelung der Erde und ohne Massenvernichtungswaffen stammen.
    Das bedeutet als Voraussetzung für das Überleben der Menschheit: Veränderung der Familienplanung in den „armen“ Ländern, des Konsumverhaltens in den Industrie-Staaten, aber auch Veränderung der Schwerpunkte bei den helfenden Organisationen, sowie bei den Vorgaben der moralischen „Taktgeber“ in Politik und Religion!
    Vermutlich ist es längst zu spät, denn die Umweltproblematik ist nur eine weitere Erscheinung dieser Problematik …
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  • wwl43
    Beginnt in dieser Zeitung das Umdenken, kommen – endlich - die komplexen Ursachen der Flüchtlingskrise zur Sprache? Wird begriffen, dass „gut gemeinte“ Einzelaktionen meist das Gegenteil der Absicht bewirken, wenn Zusammenhänge nicht berücksichtigt werden?
    Medizinische Hilfe mit Senkung der Sterblichkeit und Steigerung der Lebenserwartung führt zu Bevölkerungsexplosion, wenn nicht die Geburtenrate parallel dazu gesenkt wird. Das geht nicht von allein oder dauert dann zu lange: Europa ist nicht in der Lage, allein den bisherigen Bevölkerungszuwachs Afrikas aufzunehmen! Das ist aber nur einer der Brennpunkte!
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