Der Abgrund ist eine schmale Gasse entfernt. Ein paar schiefe Treppen hinunter, ein Trampelpfad. Es stinkt nach Kloake, ein Graben übersät mit Müll, Abwasser läuft hinein, aus den Hütten und an den nächsten Haustüren vorbei. Willkommen im „Loch des Gürteltieres“. Was wie der Titel eines schlechten Horrorfilms klingt, ist in Sao Paulos Stadtteil Sapobemba bittere Realität: der Name für eine Favela, ein Armenhaus mitten in der Elf-Millionen-Metropole, in der die Reichsten mit Helikoptern zum Einkaufen fliegen.
Im „Loch des Gürteltieres“ hätten sie gerne ein paar Real übrig, um überhaupt mal richtig einkaufen zu können. Adeilda Sebastiana da Silva würde das Geld für Garn investieren, damit sie weiterhäkeln kann. Ihre selbst gemachten Hüte – sie sind derzeit die einzige Einnahmequelle für ihre fünfköpfige Familie. Ein Mann, drei Söhne, alle ohne Arbeit. Trotzdem schlagen sie sich irgendwie durch im „Loch“, benannt nach dem gepanzerten Tier, das hier in der Vergangenheit gesichtet wurde.
Einen Schutzpanzer wie das Gürteltier bräuchten die Bewohner der Favela auch. Einen Panzer für die Seele. Oder besser Hilfe, Zuspruch, Seelsorge. „Um uns hier kümmert sich doch niemand“, schimpft die 46-jährige da Silva. Kein Sozialarbeiter lasse sich blicken, die Stadt tue nichts, „und die Kirche hilft auch nicht“. Es ist ein Tal der Vergessenen, in dem man als Besucher lieber nicht bis zum Ende geht. „Nein, bitte nicht weiter“, warnt André Feitosa Alcantara. „Wo der Staat nicht hinkommt, regiert der Drogenhandel.“ Und der legt wenig Wert auf Öffentlichkeitsarbeit.
Ganz vergessen sind die Menschen im Gürteltierloch aber dann doch nicht. Das „Zentrum zur Verteidigung von Menschenrechten“ (CDHS) betreibt im Stadtteil – dreimal so groß wie Würzburg – eine Kindertagesstätte mit 72 Kindern, betreut die Familien. Und Feitosa steht als Rechtsanwalt den Ärmsten zur Seite. Er tut dies für das CDHS in Sapobemba genauso wie für das Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia (CGG) im Zentrum von Sao Paulo.
Beide Einrichtungen sind partnerschaftlich vernetzt, wie so viele soziale Initiativen in der größten Stadt Südamerikas, die es – wie Brasilien generell – schier zerreißen möchte ob der sozialen Gegensätze, ob der Schieflage zwischen einer dekadent reichen Oberschicht und einer breiten Masse, die teilweise ums tägliche Überleben kämpft.
Das Zentrum Gaspar Garcia steht mit derzeit 400 laufenden Aktionen auf der Seite jener, die an den Rand, die auf die Straße gedrängt werden. Mit großem Einsatz werden Selbstheilungskräfte gestärkt. Werden Menschen beraten, wie sie zu ihrem Grundrecht auf ein würdiges Wohnen kommen. Und deshalb ist das Zentrum eines von 230 Projekten, die das bischöfliche Hilfswerk Misereor derzeit in Brasilien fördert. Die Besuchergruppe aus Würzburg stand beeindruckt bis fassungslos an den Brennpunkten.
Hinterhof eines besetzten Hauses, eines sogenannten „cortiço“ im Stadtzentrum: graue, schmutzige Wände, manche Fenster ohne Glas, andere mit Holz zugenagelt, die Wäsche davor zum Trocknen aufgespannt. In den Gängen schummriges Licht und Überwachungskameras: Drei Bürgerbewegungen haben sich hier zusammengetan und verwalten das Gebäude, das ein Zeitungshaus, dann Hotel war und schließlich leer stand und verfiel. Bis vor acht Jahren die Ärmsten kamen und es in Beschlag nahmen. Jene, die kein Geld haben für teure Mieten, auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf.
237 Familien leben heute hier, zehn bis zwölf Bewohner teilen sich eine Gangtoilette, einen kleinen Lebensmittelladen haben sie eingerichtet. Seit der Besetzung kämpfen sie um ihr Wohnrecht, das Zentrum Gaspar Garcia unterstützt sie. Es gab Drohungen, das Gebäude werde geräumt. Mittlerweile gehört das Haus der Stadtverwaltung. Ob sie es herrichtet, steht in den Sternen. „Eine Wohnung ist Leben, Würde, Bürgersein“, spricht ein Vertreter das Credo der Besetzungen aus. Es ist nicht so, dass es in Sao Paulo keinen Wohnraum gäbe. Nur: Allzu oft stehen Gebäudekomplexe leer, weil sie nicht mehr genutzt werden oder damit spekuliert wird.
Leere Fabrikhallen, Schulen, ehemalige Hotels, und manchmal reicht schon ein großes, freies Feld: Mitten in der Nacht strömen – in einer vorbereiteten Aktion – Dutzende Menschen mit ihrem wenigen Hab und Gut auf das Grundstück und errichten ihr Camp. Besser, geschützt hier unter einer Plane zu schlafen als unter der Brücke oder auf einer Straßeninsel. „Dito“ Barbosa, der selbsterklärte „Rechtsanwalt des Volkes“ und Gaspar-Garcia-Mitarbeiter, begleitet die Besetzung.
Die Zahl der Obdachlosen in Sao Paulo soll sich im vergangenen Jahrzehnt auf 15 000 verdoppelt haben. Zwei Millionen Einwohner leben wie Adeilda da Silva in prekären Hütten oder in besetzten, nicht selten abbruchreifen Hochhäusern. Hier fühlen sie sich halbwegs sicher, anders als auf der Straße, wo Gewalt an der Tagesordnung ist.
Andreia Allison hat sie erfahren. Gleichgeschlechtliche oder Transsexuelle wie sie haben einen schweren Stand in Brasilien. Als 14-Jährige wird sie von der Familie ausgestoßen, rutscht ins Drogenmilieu ab und in die Prostitution. Sie schafft den Absprung, arbeitet fünf Jahre als Friseurin. Dann wieder Drogen, Depressionen. Sie landet auf der Straße. „Ich hatte keine Erwartung mehr an mein Leben“, sagt die 28-Jährige. Bis sie eine Freundin auf ein Eingliederungsprojekt von Gaspar Garcia aufmerksam macht. Hier sortiert sie heute Müll für die Wiederverwertung. Hier bekommt ihr Leben Sinn und Rhythmus. Allisons großes Ziel: Nach dem halben Jahr im Projekt wieder als Friseurin zu arbeiten und in einer festen Wohnung zu leben. Sie glaubt wieder an sich, hat Halt gefunden in der Gemeinschaft. Und steht damit exemplarisch für die Philosophie des Menschensrechtszentrums und Misereor-Partners. Generalsekretär Rene Ivo Gonçalves: „Der Einzelne ist verwundbar, die Gruppe ist stark.“
Fast 2500 Kilometer weiter im Norden, im Amazonasgebiet, hat Brasilien ein anderes Gesicht – durchzogen nicht von achtspurigen Straßen in einem Häusermeer, sondern von breiten Flüssen in endlosem Tropenwald – oder nach dessen Abholzung mit riesigen Agrarflächen für den Export von Soja oder Mais. Was eine Diözese wie Itaituba im Bundesstaat Pará mit Sao Paulo verbindet: Auch hier kämpft die Bevölkerung um fundamentale Rechte, mancherorts um ihre Existenz. Pimental ist so ein Ort.
84 Familien, rund 700 Menschen, leben in dem idyllischen Dorf am Tapajós, ein Nebenfluss des Amazonas, besser gesagt: ein gewaltiger Strom von über 2000 Kilometern Länge, wenn man seinen wichtigsten Zufluss dazurechnet. Die Menschen leben hier mit dem Fluss und vom Fluss. Gemeindekatechet Edmilson Reibeira Azevedo hat ein schönes Bild: „Der Tapajós ist unser Kühlschrank. Wenn du nichts zu essen daheim hast, gehst Du mit einer Angel an den Fluss – und in wenigen Sekunden hast Du etwas zu essen. Für dich und für andere.“ 350 Fischarten wurden hier ausgemacht. Deshalb verteidigen sie den Tapajós, denn er ist in Gefahr – und noch mehr ihr Dorf Pimental: Wenn ein Stück flussabwärts der geplante Staudamm in Sao Luiz gebaut wird, verschwindet Pimental in den Fluten.
Brasilien setzt auf den Ausbau der Wasserkraft, denn groß ist der Energiehunger der Exportindustrie wie der Aluminium-Erzeugung, des Bergbaus, der multinationalen Konzerne, der Baulöwen und korrupter Politiker. „Die Leute vor Ort haben nichts von den Gewinnen“, schimpft Pfarrer Joao Carlos Portes. Er kämpft wie andere Mitarbeiter der Landpastoral (CPT) mit den Menschen für ihre Rechte, für den Erhalt der Lebensgrundlagen. Unterstützt von Misereor macht die CPT den Staudammopfern – und auch anderen Benachteiligten – Mut, sich zu wehren, sich zusammenzuschließen, und klärt sie über ihre Rechte auf. Jenen, die durch den Staudammbau geflutet werden, bietet das Staudamm-Konsortium aus mehreren großen Firmen zwar Entschädigungen oder eine Umsiedlung in neue Häuser an anderem Ort an. Doch was sind die Versprechen wert? Am Xingu, einem anderen Nebenfluss des Amazonas, haben sich die Bewohner von den angeblichen Vorteilen eines Mammut-Staudammes blenden lassen. Viele wurden heimatlos.
Dieses Schicksal droht auch den 13 Familien von Aldeia de Munduruku. Fast zwei Stunden ist man mit dem Boot zu dem indigenen Dorf unterwegs. Die Ureinwohner leben im Einklang mit dem Fluss, er hat religiöse Bedeutung. Wird er gestaut, geht ihr Dorf unter. Eine Umsiedlung? Dann verlieren die Munduruku ein Stück ihrer Seele. Häuptling Valto Datie Munduruku formuliert es drastischer: „Wenn der Staudamm kommt, bringt uns die Regierung um.“
Dabei könnte es ausgerechnet das kleine Dorf Aldeia mit seinen 51 Ureinwohnern sein, das die 7,6 Kilometer lange und 53 Meter hohe Staumauer vielleicht noch verhindert: Wird ihr Land formal als Indio-Gebiet ausgewiesen und festgeschrieben, dürfte ihr Dorf nicht geflutet werden. Die Zeit drängt. Im Februar – just, wenn in Würzburg die Misereor-Fastenaktion nach Brasilien blickt – soll der Auftrag für den ersten und größten dieser fünf Tapajós-Staudämme vergeben werden.
- Live-Blog aus Brasilien zum Nachlesen
Die Misereor-Fastenaktion 2016 und das Bistum Würzburg
„Das Recht ströme wie Wasser“: Unter diesem Motto des Propheten Amos steht die bundesweite Fastenaktion 2016 des bischöflichen Hilfswerks Misereor. Sie wird am 14. Februar zentral in Würzburg eröffnet, begleitet von einem mehrtägigen Programm. Seit 1989 macht die Aktion auf die Verantwortung der Industriestaaten für Länder des Südens aufmerksam.
Beispielland ist im kommenden Jahr Brasilien. Zur Eröffnung werden Gäste von dort in Würzburg erwartet – darunter Bischof Erwin Kräutler, der an der Seite der indigenen Bevölkerung und Flussanrainer gegen den Bau riesiger Staudämme kämpft. Schon jetzt planen kirchliche Einrichtungen, Gruppen und Schulen im ganzen Bistum Veranstaltungen zur Fastenaktion. Sie thematisiert menschenunwürdige Wohnverhältnisse in Sao Paulo sowie die Bedrohung der Lebensgrundlagen im Amazonas-Gebiet. Ökumenischer Partner für die Fastenaktion ist der Brasilianische Rat der christlichen Kirchen CONIC.
Einen Eindruck vor Ort hat sich vor wenigen Tagen eine zehnköpfige Gruppe von Journalisten und Multiplikatoren aus Unterfranken verschafft – darunter Karin Post-Ochel (stellvertretende Diözesan-Vorsitzende des Frauenbundes), Angelika Haaf (Geschäftsführerin der katholischen Landvolkbewegung), Umweltreferent Christof Gawronski und Christiane Hetterich (Diözesanstelle Mission Entwicklung Frieden). Die Gruppe reiste in die Millionen-Metropole Sao Paulo und an den Rio Tapajós im Amazonas-Gebiet. Aus Begegnungen mit Betroffenen und Sozialarbeitern nahmen die Teilnehmer viele Informationen zur Menschenrechtslage in Brasilien mit. Aktuell weilt eine weitere Gruppe aus dem Bistum zur Vorbereitung der Fastenaktion in Brasilien.