Mit viel Getöse hatte die Berliner Staatsanwaltschaft Mitte April mit 900 Beamten zur Razzia geblasen - auch in Würzburg. Von organisierter Kriminalität im Stil des Chicagoer Gangsters Al Capone war die Rede. Von Frauen, die im „Artemis“ mit Hilfe der Rockergruppe „Hells Angels“ zum Anschaffen gezwungen worden seien. Und von Steuerhinterziehung in zweistelliger Millionenhöhe.
Nach der Razzia feierte sich die Berliner Staatsanwaltschaft in einer Pressekonferenz. Von den dort geäußerten Verdachtsfällen ist nicht viel geblieben. Zwar wird wegen Steuerhinterziehung weiter ermittelt. Bei den anderen Vorwürfen konnten Polizei und Staatsanwaltschaft aber keine Belege beibringen, die eine weitere Inhaftierung gerechtfertigt hätten.
Das Kammergericht hatte nach Informationen dieser Zeitung vor kurzem signalisiert, dass nach den vier festgenommenen „Hausdamen“ am Freitag auch die Bordellbetreiber selbst, Kenan und Haki S., auf freien Fuß kommen. „Alle Vorwürfe verpufft“, meldete „Bild“ bereits ebenso geistreich wie voreilig.
Wesentliche Gründe für Inhaftierung nicht bestätigt
Der Haftbefehl für die beiden Würzburger Geschäftsleute soll nicht nur außer Vollzug gesetzt, sondern aufgehoben werden. Dies bedeutet, dass sich wesentliche Gründe für die Inhaftierung nicht bestätigt haben. Die beiden werden von einem halben Dutzend Anwälten in mehreren Rechtsgebieten vertreten – darunter strafrechtlich von den Würzburger Anwälten Jan Paulsen und Norman Jacob.
Der Fall stößt auch im politischen Berlin auf Interesse, dass sich (etwa mit der Reform des Prostitutionsgesetzes) bemüht, die Lebensumstände der im Milieu beschäftigten Frauen mit rechtlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Interessenvertretungen der Prostituierten wie BESD (Bundesverband der Erotik- und Sexarbeiterinnen in Deutschland) betonen den Wandel im Milieu, in dem Frauen häufig nicht mehr von Zuhältern gezwungen würden, diesem Beruf nachzugehen, sondern sich bewusst dafür entscheiden, mit der käuflichen Lust ihr Geld zu verdienen.
Dass daneben aber auch weiter „Beschützer“ die hilflose Lage junger Frauen aus Osteuropa ausnutzen und sie zur Prostitution zwingen, können aber auch sie nicht leugnen. Vor diesem Hintergrund ist das (auch nach der Razzia weiter geöffnete) “Artemis“ ein Testfall für weniger Gewalt und Ausbeutung im Rotlicht-Milieu: Die beiden Würzburger Begründer stellen in dem dreistöckigen Gebäude nur die Räumlichkeiten zur Verfügung. Die Kunden zahlen dort Eintritt für die Nutzung ebenso wie die zeitweise über 100 Frauen, die dort (nach eigenen Angaben selbständig) dem ältesten Gewerbe der Welt nachgehen können.
Aussage einer Ex-Prostituierten: "Ich wurde gezwungen"
Eben daran zweifelte die Staatsanwaltschaft – und machte dies nicht nur an Dienstplänen und vorgeschriebener Arbeitskleidung fest. Auslöser der Razzia soll die Aussage einer Ex-Hure aus dem Umfeld der gewaltbereiten Rocker der Gruppe „Hells Angels“ sein. Die Frau soll im „Artemis“ nach eigenen Angeben zur Prostitution gezwungen worden sein und lebt inzwischen in einem Zeugenschutzprogramm im Verborgenen. Die Kronzeugin hatte sich im März 2015 an die Polizei gewandt.
Sie sei von ihrem Lebensgefährten, der ehemals Torwart bei Eintracht Frankfurt war und Hells-Angels-Mitglied sein soll, "schwer malträtiert" worden, um sie zu zwingen, im „Artemis“ zu arbeiten. Für diesen Hells Angel zeigen Ermittler zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität heftiges Interesse. Er soll im Rockerkrieg mit konkurrierenden Gruppierungen für Sprengstoffanschläge auf Klubhäuser anderer Rocker verantwortlich sein und wird mit Haftbefehl gesucht.
Ein weiterer Hells-Angels-Rocker ließ nach Angaben von Ermittlern ebenfalls eine Frau für sich im Artemis arbeiten. Er ist Kronzeuge im sogenannten Wettbüromord-Prozess. Dabei war ein Sympathisant der mit den „Hells Angels“ verfeindeten „Bandidos“ 2014 mit sechs Schüssen in die Brust getötet worden – trotz laufender Videoüberwachung. Auch für einen der in U-Haft sitzenden Tatverdächtigen soll laut Polizei eine Prostituierte aus dem Artemis gearbeitet haben. Zwei weitere auf der Flucht befindliche Rocker sollen laut Polizei von Prostituierte aus dem Großbordell mit dem dort verdienten Geld unterstützt worden sein – ob freiwillig oder gezwungen, bleibt dabei unklar.
Offenbar hatten die Ermittler keine Probleme, die Frauen ihren jeweiligen „Beschützern“ zuzuordnen. Nach Angaben von Insidern sollen einige Frauen Tätowierungen mit dem Schriftzug "property of" (Besitz von) und dem jeweiligen Namen eines Rockers tragen.
Die „Artemis“ Betreiber hatten mit den „Hells Angels“ keine erkennbaren Geschäftsbeziehungen – wenn man davon absieht, dass die Kuttenträger seit 2013 immer wieder dort zum Feiern auftauchten. Wohl aus Sorge vor einer „feindlichen Übernahme“ hatte einer der zwei Würzburger dies auch der Polizei gemeldet – und soll sich nun just für die Kontakte zu den „Höllenengeln“ rechtfertigen.
Kenan S. hatte das Geschäftsmodell – in das er nach eigenen Angaben fünf Millionen Euro investiert hatte – von Finanzamt und Landeskriminalamt prüfen lassen. Dies war für gut befunden worden. Umso erstaunter waren er und sein Bruder, als die Ermittler im April auftauchten. Dass die türkischstämmigen Brüder aus Würzburg hinter dem Bordell steckten, wurde erst dadurch einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Es bedeutete auch ein Spießrutenlaufen für seine Kinder in der Schule in Würzburg. Dass die Bemühungen der Staatsanwaltschaft ins Leere liefen, zeigte sich rasch nach der Razzia.
Bordell wurde nie geschlossen
Auffallend ist, dass die Berliner Aufsichtsbehörde drei Monate nach der Durchsuchung keine Anstalten macht, das Bordell zu schließen – offenbar hat sie keine rechtliche Handhabe Der Leitende Berliner Staatsanwalt Andreas Behm, der die Razzia verantwortete, wurde unmittelbar nach der Artemis-Razzia abgelöst. Er arbeitet jetzt als Abteilungsleiter im Justizministerium von Brandenburg. Silvin Bruns, Unternehmensrechtler und einer der Anwälte des Artemis, sagt: "Die Betreiber des Artemis haben sich stets von kriminellen Gruppierungen distanziert." Er hält die Vorwürfe im Haftbefehl "alle nicht für zutreffend".
Bei den bis zu 125 Prostituierten, die täglich im Artemis arbeiteten, seien die wesentlichen Kriterien der Selbstständigkeit erfüllt. Seinen Worten zufolge zeigen Unterlagen, dass es kurz vor Beginn der Ermittlungen zwei "dubiose Kaufangebote" gegeben habe. Sie seien von einem Russen, im anderen Fall von einer Schweizer Investmentgesellschaft abgegeben worden. "Diese waren dermaßen unprofessionell gestaltet, dass bei den Betreibern schnell der Verdacht eines kriminellen Hintergrunds aufkam", so Bruns.
Die Würzburger Brüder hätten die Anfragen deshalb an das Landeskriminalamt weitergeleitet. Von den Vorwürfen aus den Haftbefehlen gegen die Brüder K. soll sich kaum etwas bestätigt haben. In vielen Bereichen haben Gerichte genau das Gegenteil festgestellt. Die Berliner Staatsanwaltschaft will ihre Ermittlungen dennoch fortführen. Die beiden Würzburger kamen am Freitag Nachmittag wieder auf freien Fuß.