Eigentlich ist Bernd Breutmann Informatikprofessor. Viele Jahre lehrte er in Würzburg an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (FHWS), war fünf Jahre deren Vizepräsident. In Pension, frönt er nun einer alten Liebe – zur englischen Geschichte und Literatur. Im Buch "Die Zeit ist aus den Fugen" schaut er hinter das Brexit-Votum. Er sieht darin teuflisches Potenzial – und Analogien im Werk William Shakespeares.
Frage: Wie kommt man als Informatikprofessor eigentlich zu Themen wie Shakespeare und Brexit?
Bernd Breutmann: Nicht über die Informatik. Aber über alte persönliche Leidenschaften, die in der Schulzeit geweckt wurden und mich mit meiner Pensionierung wieder gepackt haben. Dazu habe ich durch meinen Schwiegersohn mittlerweile familiäre Beziehungen nach Schottland, sie haben mich zu Shakespeare und Macbeth zurückgeführt.
Also ein reines Hobby?
Breutmann: Ja, was englische Literatur und Geschichte angeht. Allerdings sind in meiner Zeit als Informatikprofessor durch die wissenschaftliche Zusammenarbeit viele Kontakte mit Kollegen auf der Insel entstanden. Die erleben und erleiden den ganzen Schlammassel, da kann ich nur mitfühlen… Insofern ist das Buch auch eine kleine Hommage an Großbritannien und meine Freunde dort.
Also Ihre Freunde sind keine Brexiteers?
Breutmann: Ich glaube, dass Briten, die gute Kontakte zum Kontinent haben, selten Brexiteers sind. Das ist eher die Haltung von Leuten, die in ihrem „little England“ leben oder ganz andere Interessen haben… Hinter dem Brexit steckt ja noch eine andere schlimme Geschichte.
Welche?
Breutmann: Es gibt Hinweise auf handfeste wirtschaftliche Interessen einiger Brexit-Promotoren – nämlich das Interesse, England einer ungehemmten Globalisierung auszusetzen. Das ist insofern tragisch, weil die Brexit-Mehrheit der Bevölkerung dies genau nicht wollte. Ein irischer Journalist hat das so formuliert: Der Brexit ist ein Projekt der Globalisierung, verpackt in einer Volksabstimmung gegen die Globalisierung.
Das verstehe ich nicht.
Breutmann: Jacob Rees-Mogg als ein Frontmann der Brexiteers sitzt als reicher Investmentbanker im englischen Parlament. Und die Gruppe um ihn will EU-Standards beim Arbeitsrecht, im Umwelt- oder Sozialbereich aufweichen. Es gibt Befürchtungen, dass Großbritannien zu einem Offshore-Dienstleistungszentrum á la Hongkong werden könnte.
Aber mentalitätsgeschichtlich betrachtet: Ticken die Engländer nicht immer schon unabhängig und eigen?
Breutmann: Ja, das stimmt. Das Motto „take back control“ finden Sie schon bei Heinrich VIII. und seinem Kampf gegen die katholische Kirche. Jetzt geht es gegen die europäischen Institutionen. Nur höre ich auf der Insel die Befürchtung heraus, dass möglichweise ganz andere die Kontrolle übernehmen könnten – also nicht das Parlament, sondern die globalen Märkte.
So könnte sich der Brexit also als Trugschluss herausstellen…?
Breutmann: In der Tat. Deswegen heißt eines der Kapitel in meinem Buch auch „Wussten die Leave-Wähler eigentlich, was ‚Leave‘ will?“
Und wussten sie’s?
Breutmann: Ich glaube, sie wollten es gar nicht so genau wissen. Es war ein Votum gegen Europa wegen Missständen, für die Europa nicht verantwortlich ist. Ich habe in den ausgehenden 80er Jahren selbst miterlebt, wie Thatchers Deindustrialisierungspolitik vor allem den Norden Englands schwer getroffen hat. Diese Benachteiligung ist heute noch sehr präsent. Das liegt aber nicht an der EU.
Leben die Briten zu sehr in ihrer früheren Macht und Größe?
Breutmann: Es gibt das Buch eines englischen Historikers mit dem Titel „Kulturelle Demenz“. Darin beschreibt er, wie das Nachhängen vergangener Größe den Blick verstellt für die Zwänge und Erfordernisse der Gegenwart. Ja, viele Engländer hängen noch dem Empire nach…
Und Shakespeare? Wäre er auf Seiten der Gegner oder Befürworter des Brexit?
Breutmann: Shakespeare taucht in den Diskussionen permanent auf, wird ständig zitiert – paradoxerweise von beiden Seiten. Ein amerikanischer Literaturprofessor hat einmal gesagt: Shakespeare ist wie eine Bibel. Man kann sich bei ihm Zitate für alles rausziehen. In meinem Buch ging es mir aber weniger um Zitate, als vielmehr um Shakespeares Haltung. Ich wollte herausfinden, welche Haltung er hatte zu den Konfliktlinien der Brexit-Debatte. Etwa zur Fragen der Migration, der Beziehung zum Kontinent, zur politischen Reife des Volkes, seinen Willen auszudrücken. Shakespeare ist wirklich zeitlos.
Und was wäre sein Befund zur aktuellen Lage?
Breutmann: Die Brexiteers beziehen sich gerne auf die Historienstücke Shakespeares, in denen er sein geliebtes England besingt. Nur: Er warnt dort auch davor, das Land zugrunde zu richten. Shakespeare ging sehr kritisch mit den Regierenden, mit den Mächtigen in seinem Land um. Er beleuchtet immer beide Seiten, ist ein ambivalenter Autor. Und Shakespeare hat Sympathien für die Nachdenklichen. Populisten, die einfache Lösungen propagieren – das sind nicht Shakespeares Helden.
Wenn Sie den Brexit als Schmierenstück sehen: Gibt es dafür Blaupausen bei Shakespeare?
Breutmann: Er hat viel zu den Rosenkriegen und den Weg dorthin geschrieben, hat sich intensiv mit Macht und Machtmissbrauch beschäftigt. Er hat sich mit „good governance“ beschäftigt und seinem König den Spiegel vorgehalten. Insofern gibt es Parallelen. Shakespeares Jahrhundert war ja auch ein Jahrhundert „aus den Fugen“, ein Brexit-Jahrhundert.
Inwiefern?
Breutmann: Heinrich VIII. hat damals sein Land von Fesseln des Papsttums befreit. Es war die Loslösung vom katholischen Europa und der Aufbau einer eigenen anglikanischen Kirche. Er wollte keine päpstliche Gerichtsbarkeit in seinem Land und keine Steuern, die nach Rom transferiert werden. Das hören sie heute auch von Brexiteers, bezogen auf Brüssel. Sie sprechen von „take back control“, bei Heinrich VIII. ging es um „gain control“.
Also schon damals wollten die Engländer ihr eigenes Ding machen…
Breutmann: Vergessen Sie nicht – das ist ein Inselvolk, das über die Jahrhunderte hinweg blutig und dramatisch an Kontinentaleuropa gebunden war. Englische Könige waren in Kriege auf dem Kontinent verwickelt und benutzten England als Cashcow, wie zum Beispiel Heinrich II. oder Richard Löwenherz. England hat dafür Geld und Soldaten gestellt. Und hier ziehen die Brexiteers gern Vergleiche: Europa benutzt uns als Cashcow. Wir zahlen ein und bekommen wenig zurück.
Und in Shakespears Stücken? Gibt’s da Verhaltensmuster, die Sie heute wiederfinden?
Breutmann: Also, die Intrigen und Streitereien im Kabinett von Theresa May finden sich ständig wieder, zum Beispiel in „Richard II“ oder „Heinrich VI.“ Interessant finde ich eine Parallele zur Frage der politischen Mündigkeit des Volkes. Im „Julius Caesar“ beschreibt Shakespeare sehr eindrucksvoll die Manipulierbarkeit des Volkes. Das hat man ja auch beim Brexit gesehen: Wenn man unterschwellige Ängste anspricht, bekommt man das Volk auf seine Seite.
Und wie ist es mit typischen Charakteren? Gibt’s da Ähnlichkeiten?
Breutmann: Shakespeare-Charaktere haben einen hohen Wiedererkennungswert. Den übelsten Bösewicht in seinem Werk, Richard III. , erkennen viele heute in Nigel Farage wieder, dem Anführer der europafeindlichen UKIP. Beides sind rücksichtslose, machiavellistische Typen. Und Boris Johnson bewegt sich wie Shakespeares Falstaff als freies Radikal, ungehemmt, unkontrollierbar, sexistisch. Der Unterschied zu den Figuren bei Shakespeare ist: Er gibt ihnen immer noch eine gewisse Sympathie. Am Ende erkennen sie, was sie falsch gemacht haben. Dieses Verhalten sehe ich bei den Brexiteers nicht.
Als Beobachter hat man das Gefühl, dass die Politik in England jedes Verantwortungsgefühl verloren hat. Hat sich Shakespeare auch damit beschäftigt?
Breutmann: Es gibt ein schönes, zutreffendes Zitat aus dem Hamlet: „Und ist es auch Irrsinn, so hat es doch Methode.“ Das gilt auch für den Brexit. Nach außen hin ist im aktuellen Abstimmungsverhalten des Parlaments kein Sinn zu erkennen. Aber das Verhalten der Streitparteien hat Methode: Man verfolgt eine eigene Agenda und streift jede Gesamtverantwortung ab.
Wenn man sich in der Brexit-Frage die Polarisierung anschaut: Ist sie typisch, passt sie zu England?
Breutmann: Also die Spaltung zwischen Volk und herrschender Klasse gab es schon immer. Shakespeare hat sie im „Heinrich VI.“ thematisiert, da gibt er einem Volksaufstand mit revolutionären Zügen breiten Raum. Was Beobachtern aktuell noch mehr Sorgen bereitet, ist die Spaltung in der Gesellschaft: Einzelne Gruppen sprechen gar nicht mehr miteinander. Das ist eine wirklich bedenkliche Entwicklung, für die es selbst bei Shakespeare kein Vorbild gibt. Das kann noch sehr unangenehm werden.
Kann denn der gute Shakespeare mit seinem Werk und seinem Denken einen Weg aus der verfahrenen Situation weisen?
Breutmann: In einem seiner Historienstücke, „Heinrich V.“, befasst er sich mit einer solch ausweglosen Situation. Da geht es um die Schlacht von Azincourt im hundertjährigen Krieg, in der die englischen Truppen zahlenmäßig den Franzosen heillos unterlegen waren. In einer legendären Rede beschwört Heinrich V. die Einheit von König und Volk.
Und was könnte das für das Brexit-Dilemma heißen?
Breutmann: Wenn sich die Queen aufraffen und sich – entgegen aller Tradition – in die Tagespolitik einmischen und ein Machtwort in die eine oder andere Richtung sprechen würde… das könnte die Situation sehr schnell auflösen.
Das beherrschende Thema der Brexit-Kampagne war die Migration. Was hätte Shakespeare dazu zu sagen?
Breutmann: Vor kurzem ist ein Text Shakespeares aufgetaucht, der genau dieses Thema anspricht. Es handelt sich um eine flammende Rede gegen einen Mob, der Fremde aus London vertreiben will. Shakespeare setzt damit einen überraschend klaren Kontrapunkt zur Migrantenfeindlichkeit in der Brexit-Kampagne.
Über der Brexit-Frage tut sich ja auch ein Graben zwischen England und Schottland auf. Die Schotten haben für einen Verbleib in der EU gestimmt. In wieweit gibt es dafür ein historisches Muster?
Breutmann: Die Schotten hatten immer mit dem Nachbarn England zu kämpfen und haben sich deshalb in der Geschichte häufig mit Frankreich, also dem Kontinent, verbündet. Das war die „Auld Alliance“. Sie haben an der Seite Frankreichs gegen England Krieg geführt. Deshalb sind die Schotten gegenüber Europa sehr viel aufgeschlossener als die Engländer. Die Geschichte dazu habe ich in meinem letzten Buch thematisiert: „Schottland-Shakespeare-Macbeth“.
Bernd Breutmann: "Die Zeit ist aus den Fugen. Shakespeare, Brexit & die ungeschriebene Verfassung", Königshausen & Neumann 2019, 180 Seiten, 28 Euro.