300 Jahre lang ist die Universität Würzburg eine reine Männerdomäne. Und sie wäre es auch noch länger geblieben, hätte es nicht zielstrebige Frauen wie Marcella O’Grady gegeben, die 1863 geboren wird und nach einem bewegten Leben am 24. Oktober 1950 für immer ihre Augen schließt. Nur zum Vergleich: Bayern lässt als zweites Land im Deutschen Reich (nach Baden-Württemberg) im Jahr 1903 endlich Frauen zum Studium zu; im selben Jahr erhält die in Frankreich tätige Marie Curie bereits einen Nobelpreis für Physik.
Auch in Marcella O’Grady, einer Amerikanerin mit irischen Wurzeln, steckt jede Menge Forscherdrang. Ihr ganzes Leben lang kämpft sie dafür, sich als Frau in den Dienst der Wissenschaft stellen zu dürfen. Und sie siegt auf ganzer Linie. Um das zu verstehen, bedarf es zunächst eines Blickes auf das deutsche Bildungswesen im 19. Jahrhundert. „Es war schon stark durchstrukturiert, an eine Universität kam man nur mit Hochschulabschluss, und natürlich nur als Mann“, sagt die Historikerin Gisela Kaiser, die seit 1993 als Referentin das Büro der Frauenbeauftragten an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg leitet.
Es sollte kein Präzedenzfall geschaffen werden
Die erste Frau, die einen Antrag auf Zulassung zum Studium in Würzburg stellt, ist 1869 die Amerikanerin Laura Reusch-Formes. Sie hatte schon drei Semester an anderen Universitäten studiert und wollte in Bayern ihren Doktortitel erwerben. „Ihr Antrag wurde rundweg abgelehnt“, sagt Historikerin Kaiser. „Man wollte keinen Präzedenzfall schaffen.“
Einige Jahre ist Ruhe, bis 1894 eine Ärztin mit Approbation der Uni Brüssel für Wirbel sorgt. Sie besucht wenige Tage lang Vorlesungen für Chirurgie in Würzburg und ist bei einer Operation anwesend. Auch dies führt nicht dazu, dass Frauen studieren dürfen. Doch es beflügelt die Frauenbewegung: Bei Massenpetitionen kommen 50.000 Unterschriften für die Zulassung des weiblichen Geschlechts an der Universität zusammen. Zwei Jahre später ist es so weit: „Eine junge Amerikanerin durchbricht einen Jahrhunderte alten Bann“, freut sich Gisela Kaiser. „Marcella O’Grady darf als erste Frau offiziell an der Uni Würzburg studieren – allerdings nur als Gasthörerin.“ Am 15. Juni 1896 erteilt das Staatsministerium seine Zustimmung, „ausnahmsweise“ und nur deshalb, weil O’Grady zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre lang als Biologieprofessorin in den USA tätig war.
Eine beeindruckende Biografie
Ihre Biografie ist beeindruckend: Als Mädchen besucht sie eine High School in Boston und später das renommierte Massachusetts Institute of Technology, wo sie 1885 als erste Frau ihr Biologiestudium mit dem Bachelor of Science abschließt. Ihr Mentor Edmund Beecher Wilson vermittelt ihr 1885 die erste Stelle als Lehrerin. Schon zwei Jahre später erhält sie ein Forschungsstipendium am Frauencollege Bryn Mawr und graduiert zum Doctor of Philosophy. 1889 wird Marcella O’Grady Hochschullehrerin am Vassar College in New York und strukturiert den Fachbereich Biologie neu. Sie wird zur außerordentlichen Professorin berufen und erhält 1893 den Status der ordentlichen Professorin.
Drei Jahre später bekommt ihr Leben eine entscheidende Wende: Mentor Wilson macht die Wissenschaftlerin mit dem Würzburger Zellforscher Theodor Boveri bekannt. Er ist es, der die Chromosomentheorie der Vererbung begründete. Marcella möchte bei ihm ihren deutschen Doktortitel erwerben, und tatsächlich bewilligt ihre amerikanische Hochschule ein Forschungsfreijahr. So gelangt Marcella O’Grady nach Würzburg und beschreitet auch hier neue Wege: Als erste Frau erhält sie Zugang zur physikalisch- medizinischen Gesellschaft, einem illustren Kreis von Professoren und Ärzten. Wilhelm Conrad Röntgen, ein enger Freund Boveris, ist angetan von ihrem Forscherdrang.
Noch mehr Gefallen an der Amerikanerin findet allerdings Theodor Boveri selbst: Er heiratet Marcella am 4. Oktober 1897. „Das ist das vorläufige Ende ihrer wissenschaftlichen Laufbahn“, sagt Gisela Kaiser. Denn noch bis 1953 werden Frauen aus dem öffentlichen Dienst entlassen, sobald sie heiraten. Zwar veröffentlicht Marcella Boveri ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Über Mitosen bei einseitiger Chromosomenbindung“ in Jena, verzichtet aber auf die Verteidigung der Arbeit und somit auf den Doktortitel. Sie bekommt eine Tochter, die spätere Journalistin Margret Boveri. „Diese hält in ihrer Biografie fest, dass ihre Mutter sich nie an das Leben als deutsche Hausfrau gewöhnen konnte“, erzählt Kaiser.
Unterstützung von Wilhelm Conrad Röntgen
Marcella Boveri ist am glücklichsten, wenn sie ihren Mann auf Forschungsreisen begleiten kann. Und sie arbeitet auch zu Hause als Wissenschaftlerin mit ihm zusammen. Als Theodor Boveri 1915 mit nur 53 Jahren stirbt, wird es für Mutter und Tochter finanziell eng. Sie müssen das Professorenviertel am heutigen Röntgenring verlassen. „Röntgen unterstützte die Frauen finanziell und bestimmte Marcella später zu seinem Nachlassverwalter“, weiß die Historikerin, die sich durch das Hochschularchiv wühlte. Marcella engagiert sich im kulturellen Leben der Stadt und soll zu den Initiatorinnen des Mozartfests gehört haben. 1927 geschieht der nächste entscheidende Schritt im Leben der Pionierin: Sie erhält mit 63 Jahren das Angebot, eine naturwissenschaftliche Fakultät am neuen Mädchencollege im amerikanischen New Haven aufzubauen.
Marcella sagt zu und arbeitet dort 17 Jahre lang als Dozentin. Parallel übersetzt sie Arbeiten ihres verstorbenen Mannes ins Englische und veröffentlicht einige seiner neuen Erkenntnisse postum. Erst 1943, mit 80 Jahren, gönnt sie sich den Ruhestand - am 24. Oktober 1950 stirbt sie. Gisela Kaiser ist voller Bewunderung für die geistreiche Frau. „Ihre Zulassung als Gasthörerin an der Uni Würzburg gab der Frauenbewegung einen richtigen Schwung“, sagt die Referatsleiterin. „Im Mai 1898 wurde hier der erste Frauenbildungsverein ‚Frauenheil‘ gegründet. Die Mitglieder durften als Gasthörerinnen die Uni besuchen – aber nur, wenn sie ihr eigenes Heizmaterial mitbrachten und hinterher die Seminarräume reinigten.“ Im Wintersemester 1903/04 werden Frauen an den drei bayerischen Universitäten in München, Würzburg und Erlangen zugelassen. Marcella Boveri hatte den Weg bereitet. Sie war der gefürchtete Präzedenzfall.
Text: Kirsten Schlüter
Erschienen ist das Buch im Verlag Bast Medien GmbH, in dem auch die erfolgreichen „Würzburger Geheimnisse“ veröffentlicht wurden, die ebenfalls in Kooperation mit der Main-Post entstanden sind.
Erhältlich ist „Was Würzburg prägte – 52 große und kleine Begegnungen mit der Stadtgeschichte“ von Eva-Maria Bast und Kirsten Schlüter Überlingen 2017, ISBN: 978-3-946581-24-6 in den Main-Post-Geschäftsstellen (14,90 Euro).