Während Unterfranken am 28. Juni 1914 seine hundertjährige Zugehörigkeit zu Bayern feiert, erhält König Ludwig III. in Würzburg ein schicksalhaftes Telegramm. Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ist ermordet worden. Bei der Jubiläumsfeier spielen das Militär und ein möglicher Krieg bereits eine große Rolle.
Ein strahlend blauer Himmel wölbt sich über Würzburg. Der 69-jährige König Ludwig III. steht an diesem Sonntagnachmittag mit seiner Frau und fünf Töchtern auf einem Balkon der Residenz und betrachtet den großen Festzug mit Gruppen aus dem ganzen Regierungsbezirk, der unten auf dem Platz zu seinen Ehren vorbeiwogt. Tausende von Bürgern jubeln dem König zu, viele fallen wegen der Hitze in Ohnmacht.
Mitten in der Menschenmenge steht der 27-jährige Sanitätsleutnant Adelbert Gümbel mit seiner 19-jährigen Frau Maria; im Kinderwagen haben sie den wenige Wochen alten Sohn Wilhelm dabei. Sie genießen das prächtigste Fest, das Würzburg seit langem erlebt hat.
In all dem Trubel sieht Gümbel plötzlich etwas Ungewöhnliches: Ein Postbeamter drängt sich durch die Menge und bittet am Haupteingang, ins Schloss eingelassen zu werden. In der Hand hält er ein Telegramm. Es scheint wichtig zu sein, denkt Gümbel, doch die königliche Familie bleibt auf dem Balkon, bis die letzte Trachtengruppe vorbeimarschiert ist. Erst danach zieht sie sich in die fürstlichen Gemächer zurück.
„Im Gewoge der abziehenden Zuschauer mochte ich etwa bis zum Hotel Kapuziner gekommen sein, als sich schon die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete: ,Der österreichische Thronfolger mit Gemahlin wurde in Sarajevo meuchlings ermordet‘“, schreibt Adelbert Gümbel später in seine Familienchronik. Da weiß er, was in dem Telegramm für den König gestanden hat. Zu seiner Frau sagt der 27-Jährige: „Nun ist der Krieg unvermeidlich! Es gibt Krieg!“
„Die Welt war schon seit 1902 mit Kriegsspannung geladen“, steht in Gümbels Chronik. „Alte Leute hörte man sagen: ,Es muss unbedingt einmal ein Krieg kommen, sonst gibt es mit der Zeit zu viele Leute.‘ Ein jeder sehnte sich förmlich nach Krieg, ohne eigentlich dessen bewusst zu sein, was ein Krieg bedeutet. Man fabelte: ,Wenn es Krieg gibt, ist er in vier Wochen beendet.‘“
Nachdem der König das Telegramm gelesen hat, sagt er weitere Programmpunkte ab. Auch Schweinfurt und Kitzingen sollte er noch besuchen, wo ebenfalls in monatelanger Arbeit opulente Feiern vorbereitet worden sind. Am nächsten Tag fährt er mit dem königlichen Sonderzug nach München zurück. Es gilt, sich auf einen möglichen Krieg vorzubereiten.
Der König ist nicht kriegslüstern – eher im Gegenteil. Als 21-Jähriger hat er 1866 am Krieg der Bayern und Österreicher gegen Preußen teilgenommen und ist am 25. Juli 1866 bei Helmstadt verwundet worden. Seither heißt es, er sei allem Militärischen eher abgeneigt, wohl auch, weil die Preußen damals gesiegt haben.
Bei der Huldigung der Schulkinder am Vormittag des 28. Juni 1914 hat ein Bub vor dem König ein schwülstiges Gedicht aufgesagt, in dem die Schlacht eine große Rolle spielte: „Hast im Schlachtenlärm Dein Ross gelenkt; / Dort bei Helmstadt vor den wald’gen Höhen / Hat Dein Blut das Vaterland getränkt. / Dies vergisst das Frankenland Dir nimmer, / Das mit Stolz die Bayernfahne trägt, / Sieh aus heller Kinderaugen Schimmer, / Wie Dir unser Herz entgegenschlägt.“
Ludwig III., nach dem Tod seines Vaters Prinzregent Luitpold im Jahr 1912 zunächst ebenfalls Regent, trägt seit 1913 den Titel König, obwohl der eigentliche König, der geisteskranke Otto, noch lebt. Die große Leidenschaft des 69-Jährigen ist die Landwirtschaft; er besitzt ein Mustergut und wird vom Volk halb ironisch, halb respektvoll „Millibauer“ genannt. Als er vom Balkon der Residenz auf den bunten Festzug blickt, sind es deshalb die Wagen mit den Feldfrüchten aus Spessart, Rhön, Grabfeld, Haßbergen und Steigerwald, die sein besonderes Interesse finden, dazu die Gefährte der Weinbauern und Gärtner, die Trachtengruppen und die alten Tänze der Gochsheimer und Sennfelder. Es ist eine heile Welt, die da präsentiert wird, und kein Soldat, keine Kanone, kein Lazarettfahrzeug stört das Bild.
Dennoch spielt während der Jubelfeier das Militär eine große Rolle. Das beginnt schon am Samstag, 27. Juni, als der König samt Ehefrau Marie Therese und den Prinzessinnen Adelgunde, Hildegard, Wiltrud, Heimtrud und Gundelinde nach einer zweistündigen Zwischenstation in Ochsenfurt am Würzburger Hauptbahnhof eintrifft.
Würzburg ist eine der größten Garnisonsstädte Bayerns, und so hat Ludwig auch seinen Kriegsminister – den es damals im Königreich noch gibt – mitgebracht. Der König schreitet eine Ehrenkompanie ab und von der Festung ertönt Kanonendonner. Bei der Begrüßung sagt Oberbürgermeister Max Ringelmann, die Jahrhundertfeier solle ein Freudenfest werden, „ungetrübt durch irgendeinen Missklang“. Er konnte sich nicht brutaler irren.
Nachdem die königliche Familie durch ein Spalier Tausender Menschen zur Residenz gefahren ist, steht gleich ein Besuch in der benachbarten Rotkreuzklinik auf dem Programm. Dort sprechen der König und seine Frau einigen Kranken Mut zu, aber sie bewundern auch einen mobilen Transportzug der Freiwilligen Sanitätskolonne, der aus drei von jeweils zwei Pferden gezogenen Wagen besteht.
Der „Würzburger Generalanzeiger“ (WGA), der Ludwig am Samstag mit einem ganzseitigen Huldigungsartikel („Dem König Heil!“) begrüßt hat, erwähnt in seinem Nachbericht zu den Feiern ausdrücklich, dass der Transportzug „feldmarschmäßig ausgerüstet“ ist, also jederzeit in den Krieg geschickt werden kann. Fünf Wochen später rücken dieser Zug und viele andere dann tatsächlich aus, als bayerische Truppen in Frankreich und im neutralen Belgien einfallen.
Der König und seine Familie haben ein anstrengendes Programm: Empfang beim Regierungspräsidenten am Samstagabend, danach Anwesenheit bei einem gigantischen Fackelzug, am Sonntag Festgottesdienst im Dom (die Protestanten beten in der Stephanskirche, die Juden in der Synagoge), anschließend Präsentation der Garnison auf dem Residenzplatz. Der WGA ist begeistert: „Infanterie und Train marschierten vorbei, straff und in kriegerischer Haltung, die Infanterie mit Obergewehr, düster in ihrem schwarzen Haarbusch und die Faust am Karabiner der Train.“
Beim anschließenden „Fest- und Huldigungsakt“ der Stadt Würzburg und der anderen 1814 zu Bayern gekommenen Gebiete des Regierungsbezirks Unterfranken spricht der König deutlich aus, dass Bayern und das Deutsche Reich auf einen Krieg vorbereitet sind. „Gebe Gott einen langen Frieden!“, sagt er. „Sollten wir aber gezwungen sein, wieder vor den Feind zu ziehen, so vertraue ich, dass unter der Führung des Deutschen Kaisers die bayerische Armee sich neue Lorbeeren holen wird.“
Da sind es noch wenige Stunden, bis er jenes Telegramm in Händen hält, dessen Nachricht die Welt für alle Zeiten verändern wird.