Von diesem Donnerstag bis zum Samstag kommen in Würzburg rund 1600 Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten zusammen, um sich über neue Erkenntnisse und Herausforderungen der neurologischen und neurochirurgischen Intensivmedizin auszutauschen. Die Deutschen Gesellschaft für Neurointensiv- und Notfallmedizin (DGNI) und die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) halten im Congress Centrum CCW ihre gemeinsame Jahrestagung ab. Professor Wolfgang Müllges von der Uniklinik Würzburg ist Präsident des Kongresses – und erklärt im Interview, warum in der Neuromedizin in den vergangenes Jahres vieles besser, aber auch etwas Entscheidendes schlechter geworden ist.
Herr Professor Müllges, was hat sich in der Neuro-Intensivmedizin in den vergangenen Jahren getan? Was können Sie heute, was vor zehn Jahren noch nicht möglich war?
Professor W. Müllges: Da sind Welten dazwischen. Am besten abzulesen ist das daran, dass die Überlebenschancen sehr viel besser geworden sind. Das betrifft das ganze Spektrum der Krankheiten, die wir behandeln. Und das, obwohl gleichzeitig die Behandlung der Patienten heute sehr viel höhere Ansprüche stellt – bedingt durch das höhere Durchschnitts-Alter der Patienten.
Die ganze Intensivmedizin handelt mit Medikamenten und Methoden, die für sich gesehen für einen Organismus sehr anstrengend sind. Das sind alles keine Tropfen und Drops, sondern harte Medikamente, die wirklich tief eingreifen in den Organismus.
Die Behandlung selbst ist anstrengend?
Müllges: Ja. Nichts, was wirkt, hat keine Nebenwirkungen. Und gerade was das Nervensystem betrifft, kommt es nach Schäden sehr auf die Erholungsfähigkeit an. Je älter man wird, desto schwieriger wird das.
Höhere Überlebenschance – was bedeutet das in Zahlen. Und heißt das auch eine höhere Lebenserwartung insgesamt für die Patienten?
Müllges: Was man auf jeden Fall sagen kann: Die Lebensqualität ist deutlich höher. Wir können Dinge heute sehr viel effizienter und besser behandeln als vor Jahren. Das Dramatischste und Offenkundigste ist in den letzten Jahren passiert bei der Schlaganfallbehandlung: durch die Katheter-technischen Methoden, mit denen man einen Gefäßverschluss aus dem Gehirn selber entfernen kann. Man bekommt heute Wiederöffnungen der verschlossenen Arterien zustande, die vor ein paar Jahren kaum denkbar waren. Die Überlebenschancen sind für jedes Krankheitsbild unterschiedlich und hängen von sehr vielen Faktoren ab.
Was man sagen kann: Die Prognose für jede Patientengruppe wurde deutlich verbessert. Das heißt nicht, dass heute jeder überlebt. Und dass wir mit der Intensivmedizin vollständig heilen und gar nichts zurückbleibt, ist dann doch relativ selten. Aber wir helfen heute Patienten erfolgreich, bei denen wir vor zehn, 15 Jahren die Waffen gestreckt hätten.
Sie haben die Altersgrenze der Patienten nach oben verschoben?
Müllges: Absolut. Weit nach oben. Das liegt daran, dass der durchschnittliche Gesundheitszustand besser geworden ist. Ein Ergebnis von 50 Jahren guter Allgemeinmedizin in der Breite, und von risikobewusstem, aktivem, gesundem Leben.
Aber wenn doch Schlaganfall oder Hirnblutung, dann muss der Notfallpatient erst einmal schnell zu Ihnen.
Müllges: Angefangen mit dem Hausarzt, der weiß, wann er einen Notarzt zu rufen hat, dann Rettungswege, gut organisierte Zusammenarbeit innerhalb der Kliniken – das hat sich in den vergangenen Jahren alles sehr nach vorne entwickelt. Den Spruch „Time is Brain“ kennt inzwischen jeder, beim Schlaganfall kommt es auf jede Minute an.
Wann endet für Sie als Intensivmediziner der Notfall, wann beginnt die langfristige Behandlung?
Müllges: Im Prinzip muss man im ersten Moment beginnen, über die Prognose nachzudenken. Welche Eingriffe sind hoffnungslos, welche nicht? Welche Tat ist auch wirklich fruchtbar? Die Kunst ist wie immer im Leben: Nicht immer alles das zu machen, was machbar ist. Bei einem Eingriff z. B. beim Schlaganfall, der nur effektiv sein kann, wenn er sofort passiert, ist Konsens: Man macht ihn. Unter Zeitdruck kann man kaum über das Leben an sich nachdenken. Überlegungen über spätere Lebensqualität, über das, was ein Patient will oder gewollt haben könnte, sind wichtig. Aber in der Akutsituation sind sie oft nicht befriedigend und vertrauenswürdig zu lösen. Es ist eine Riesenbefürchtung, mit heroischem Aufwand etwas zu tun und dann ein Ergebnis zu bekommen, das der Patient nie und nimmer wollte, zum Beispiel ein Leben mit einer Behinderung. Bei den neuen, bahnbrechenden Methoden ist immer, immer die Frage, ist das auch für jeden gut. Welche Eingriffe sind wirklich lohnenswert und nicht nur eine Zumutung? Bei welchen kann der Patient berechtigt davon ausgehen, dass er einen Nutzen davon hat? Intensivmediziner sind keine unreflektierten Apparate-Techniker.
Und wann endet die Intensivmedizin?
Müllges: Das ist ein Punkt, da hat sich das Medizinsystem gravierend verändert. Vor 20 Jahren lagen die Patienten vier Wochen, sechs Wochen bei uns. Da konnten wir die Verläufe nach der Akutphase verfolgen. Heute sind Verdichtung, Druck, Aufnahmefrequenz so hoch, dass Patienten sehr früh in die Frührehabilitation verlegt werden. Das ist einerseits gut. Andererseits sehen wir dadurch viele Entwicklungen nicht mehr, wir verlieren den eigentlichen Behandlungserfolg aus den Augen. Es ist unbefriedigend für einen Intensivmediziner, wenn er nicht weiß, ob seine Patienten später mit einer möglicherweise zurückbleibenden Behinderung zufrieden zurechtkommen. Gerade an den Hochleistungszentren, wo die Verweildauer der Patienten sehr kurz ist, ist das ein Riesenverlust.
Verlust für wen? Für die Ärzte?
Müllges: Das Risiko ist, den Blick dafür zu verlieren, was jenseits der Akutmedizin passiert, und ob unser Akuthandeln langfristig fruchtbar ist. Das kann gerade bei jungen Ärzten die Motivation, mit Patienten durch schwierige Zeiten zu gehen, frustrierend beeinträchtigen, wenn sie den Behandlungserfolg am Ende gar nicht sehen. Wir müssen uns darauf besinnen, was wir langfristig erreichen können, um in der Akutphase klug zu entscheiden.
Das heißt: Dem Intensivmediziner geht es nicht nur um das Überleben.
Müllges: Zunächst geht es darum, natürlich. In den Neurofächern konzentriert sich der erste Behandlungserfolg meist auf einfach Messbares wie eine Lähmung. Aber das Gehirn hat mehr zu bieten als Wachsein und intakte Motorik. Auf Intensivstationen werden die detaillierten kognitiven Störungen durch akute Hirnschädigung oder allgemein Schwerstkrankheit oft vernachlässigt – obwohl die Neuropsychologie eine ganz entscheidende Rolle dabei spielt, wie der Patient künftig im Alltagsleben zurechtkommt.
Neuropsychologie?
Müllges: Das, was das Gehirn an Leistungen bringt, damit sich der Mensch im Leben bewähren kann. All die höheren Fertigkeiten des Denkens. Viele Jahrzehnte hatte man vor allem Schädigungen der linken Hirnhälfte im Fokus, weil sie Sprachstörungen, Sprachverlust, Aphasie, bedeuten können. Aber wenn man eine Schädigung in der rechten Hirnhälfte hat, kann man unter Umständen zwar intakt reden – aber bekommt vielleicht nichts Lebenspraktisches mehr auf die Reihe. Die ganz wesentliche Frage ist doch bei allen Behandlungen: Was hat der Patient am Ende davon?
Welches Thema bewegt Sie selbst heute am meisten?
Müllges: Schon seit meiner Jungassistenzarzt-Zeit: die Angst des Arztes vor dem Patienten. Natürlich nicht vor dem Patienten selber, sondern vor einer bedrohlichen Situation, die man nicht richtig durchschaut, in der man sofort handeln muss und dabei Fehler machen könnte. Das ist Alltag in der Notaufnahme, in der Intensivmedizin. Dieser Druck ist verglichen mit anderen Bereichen bei Intensivmedizin viel ausgeprägter und permanent da, man kann ihm durch nichts ausweichen. Es gibt Berufsgruppen, die genau dasselbe Problem haben. Wenn die Bereitschaftspolizei auf Demonstranten zugeht, weiß sie auch nicht, was in der nächsten Minute passiert und ob gleich ein Molotowcocktail hochgeht. Deshalb haben wir auch eine Polizeirätin zum Kongress geladen. Vielleicht können wir daraus etwas mitnehmen, wie wir unsere jungen Ärzte „an der Front“ noch besser begleiten können.