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WÜRZBURG
Wildnis, die das Leben prägt
Mit Pädagogen auf Tour: Ehemalige Heimkinder waren bei einem Projekt der Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe in Norditalien. Sie blickten in ihre Vergangenheit, um für die Zukunft zu lernen.
Lernen durch Herausforderungen: Erkennen, dass viele Hindernisse zu bewältigen sind, ist eine Lehre fürs Leben.
Foto: EKJFH | Lernen durch Herausforderungen: Erkennen, dass viele Hindernisse zu bewältigen sind, ist eine Lehre fürs Leben.
Von unserem Redaktionsmitglied REGINA URBON
 |  aktualisiert: 11.12.2019 20:05 Uhr

Wie mach' ich weiter, wenn es scheinbar nicht mehr weitergeht? Wie wird der Ängstliche zum Helden? Irgendwo in der Nähe des Ruinendorfes Pogallo im Nationalpark Val Grande, einem Wildnisgebiet in Norditalien: Sechs Jungs zwischen 14 und 17 Jahren machen gemeinsam mit zwei Pädagogen ungewöhnliche Erfahrungen bei einer „biografischen Trekkingtour“. Ein Projekt, das es so bisher nicht gab.

Der 16-jährige Marc und Robert, 17, (Namen geändert) sind wie ihre Kumpels längst zurück in Würzburg. Die beiden sind bereit, über ihr einwöchiges Erlebnis im August zu berichten. Es half ihnen, anzupacken, Hürden zu überwinden, an sich selbst zu glauben – und dabei auch andere im Blick zu haben. Keine Selbstverständlichkeit für Heimkinder, die einst aus ihrer Familie gerissen oder geholt worden waren, so etwa, weil „beispielsweise die erzieherischen Rahmenbedingungen im Elternhaus nicht ausreichend waren“, drückt sich Sozialpädagoge Simon Schmeink sehr vorsichtig aus. Ursache sei in vielen Fällen der Mangel an Erziehungsfähigkeit der Eltern, manchmal sei es auch eine plötzliche Änderung der Familiensituation. Deutlicher werden Marc und Robert selbst: der eine räumt ein, etwas auf die schiefe Bahn geraten zu sein, der andere spricht von seinen drogenabhängigen Eltern. Jetzt, nach Heim- und Hauptschulabschluss, werden die Jungs von einem Erziehungsbeistand noch ein Stück in die Zukunft begleitet. Beide haben inzwischen eine Ausbildungsstelle gefunden, der eine im Einzelhandel, der andere als Maler. Und Robert will sich „wieder zuhause einfinden“.

Simon Schmeink und sein Kollege Stefan Müller arbeiten bei der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe (EKJFH), die im Bereich „flexible ambulante Hilfen“ dem Kinder- und Jugendhilfegesetz Rechnung trägt, indem sie junge Menschen in ihrer individuellen Entwicklung fördert und dazu beiträgt, Benachteiligungen abzubauen. Bei ihrem „Survival-Trip“ (Überlebens-Reise) lernten die jungen Leute zwangsläufig, mit wenig auszukommen und einander zu helfen. Mit dabei hatten sie außer Schlafsäcken und Planen noch Grundnahrungsmittel – Hefe, Mehl, Reis, Linsen, Trockenpilze und Bohnen, Soja, Tee, aber mangels Lagermöglichkeit kein Fleisch. Baden und Waschen im Bach, Kochen über dem Feuer, Chai-Tee mit Wasser aus einer Quelle, Schlafen unter freiem Himmel und am Ende der Woche bei Regen unter der Plane („Tarp“).

„Du siehst die kleinen Käfer, die sich bewegen, und bekommst Lust, selber was zu tun.“

Marc, 16 Jahre alt

Schon am ersten Tag wurde die Teamfähigkeit der Teilnehmer auf die Probe gestellt. Auf der Suche nach dem angestrebten Lagerplatz war der Weg in der Abenddämmerung nur noch schwer zu finden und führte die Wandernden an eine Schlucht, die nur über einen umgestürzten Baumstamm passierbar war. Während einige Mutige hinüber wollen, ist für einen Jungen hier seine persönliche Grenze erreicht. Er hat Angst und will nicht mehr weiter. Doch die Gruppe muss zusammenbleiben und richtet sich nach einigen Diskussionen schließlich nach dem Schwächsten. Sie läuft mit ihm zurück bis zu einer Lichtung als Schlafplatz. Manche ärgert es, das angestrebte Tagesziel nicht erreicht zu haben. Doch als es am nächsten Tag hell wird, stellt sich bald heraus, dass die Schlucht kein Weiterkommen geboten hätte und der Weg anderswo entlang führt. Allmählich begreifen die Gefährten, dass Angst manchmal gut sein kann: hätten sie in der Nacht versucht, dort weiterzuklettern, wäre vielleicht jemand verunglückt. Dass er nutzlos sei, wie der ängstliche junge Mann bald meinte, sorgte bei den anderen für einen „kleinen Sturm der Entrüstung“, erinnert sich Pädagoge Stefan Müller. Die Jungs machten sich gegenseitig Mut.

Ob das Kochen von Linsensuppe im Steinofen oder die selbst gebackenen Brötchen und Pizzen – schon beim Holzholen fürs Feuer begann das Miteinander. Couscous mit Reis, selbst Chili „con Soja“, schmunzelt Stefan Müller, wurde gegessen, auch, wenn die Speisen nicht immer häuslichen Ernährungsgewohnheiten entsprachen, so Schmeink.

Robert konnte die Ruhe genießen: „Kein Autogestank, keine Gefahr auf Straßen, kein Gequatsche in der Straßenbahn, wenn man mal in sich reingeht“. Täglich setzten sich die Teilnehmer in Arbeitseinheiten mit ihrer eigenen Biografie auseinander: Der individuelle Lebensweg aus Steinen gelegt, zeigte beim einen eine Spirale mit offenem Ende, beim anderen einen Zick-Zack-Weg, beim nächsten einen Weg mit Abbrüchen. Die jungen Leute verstanden, dass selbst negative Erfahrungen zu Positivem führen können. Die Konsequenz: „ ...dass man in seiner Vergangenheit nachschaut, was man alles geschafft hat“, sagt Robert mit gewissem Stolz. Das Abenteuer hat das Selbstwertgefühl gestärkt.

Geräusche von Tieren in der Nacht, selbst die Spinnen überm Gesicht verkörpern auch Wochen später noch Erholung und Ausgeglichenheit. Seine Faszination beschreibt Marc so: „Alles wächst und entwickelt sich, überall ist Bewegung. Du siehst die kleinen Käfer, die sich bewegen, und bekommst Lust, selber was zu tun.“

Am letzten Abend der Reise am Lagerfeuer bekam jeder Teilnehmer von der Gemeinschaft ein individuelles Feedback – auch die beiden Pädagogen. Nacheinander musste jeder mal seinen Platz am Feuer verlassen, damit die Gruppe sich beratschlagen konnte. Bei seiner Rückkehr wurde ihm dann unterbreitet, was die anderen an ihm schätzen, aber auch, was derjenige künftig „stecken lassen“ könne. Es galt, Kritik auszuhalten. Die Betreuer mussten „einstecken“, dass sie mal „zu viel reden“, mal „zu viel Eigenverantwortung“ forderten. Dann war's aber auch gut: Die symbolisch überreichten Stecken wurden schließlich im Feuer verbrannt.

Flexible ambulante Hilfen

Die flexiblen ambulanten Hilfen sind eine Abteilung der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe (EKJFH) in Würzburg und Teil des Diakonischen Werkes e.V. Die EkjFH Würzburg leistet Hilfen zur Erziehung nach dem SGB VIII, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Neben stationären Angeboten wie Heimerziehung und teilstationären wie beispielsweise in heilpädagogischen Tagesstätten existieren auch die ambulanten Hilfen.

Das Team der flexiblen ambulanten Hilfen besteht aus Diplom-und Sozialpädagogen, Heilpädagogen, Familientherapeuten, Erlebnispädagogen und Psychologen und bietet folgende Leistungen an: sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaften, betreute Wohnformen, intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung und soziale Gruppenarbeit.

Das Val-Grande Projekt fand erstmals statt, es war ein „Testballon“, sagt Pädagoge Stefan Müller. Einen gesonderten Etat gibt es hierfür nicht, und weil nicht alle Jugendlichen, die dabei waren, feste Schuhe und Anorak besaßen, mussten die Pädagogen versuchen, an Spenden zu kommen. Sie schafften es diesmal, doch wären sie froh, auch für eine weitere biografische Trekkingtour Unterstützung zu erhalten.

Kontakt: Tel. (0931) 304294-12 u. -14; Spendenkonto: Diakonisches Werk Würzburg, HypoVereinsbank Kontonummer 11 12 023, BLZ 790 200 76, Stichwort: Gruppenarbeit „Komm Raus“.

Statt Zelt ein Tarp: Einfach tut's auch, sogar im strömenden Regen.
Foto: EKJFH | Statt Zelt ein Tarp: Einfach tut's auch, sogar im strömenden Regen.
 
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