Im 16. Jahrhundert war er einer der führenden deutschen Gelehrten überhaupt: Joachim Camerarius, anno 1500 in Bamberg geboren, gestorben 74 Jahre später in Leipzig. Er war Humanist und Philologe, Theologe, Lehrer und Übersetzer. Er war Historiker und Schriftsteller, der die Biografien von Melanchthon und Herzog Georg von Anhalt verfasste. Er gab antike Autoren wie Sophokles und Cicero heraus und beschäftigte sich mit Theologie, Pädagogik, Mathematik und Astronomie.
Ob sein vielseitiges, so unterschiedliches Interesse dazu führte, dass seine umfangreichen Werke bis heute weitgehend unerschlossen sind? Und Camerarius nur einem kleinen Kreis von Forschern überhaupt bekannt ist?
Würzburger Wissenschaftler wollen das nun ändern. Im nächsten Jahr startet an der Universität ein Forschungsprojekt, das Camerarius' Werke bibliografisch, inhaltlich und analytisch erschließen und die Schriften überhaupt erst allgemein nutzbar machen will. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützt das Vorhaben mit rund 540 000 Euro.
„Der hervorragendste Philologe“
Laut dem Altphilologen Friedrich Stählin war Camerarius der „hervorragendste deutsche Philologe des 16. Jahrhunderts“. Der gebürtige Bamberger hatte an der Universität Erfurt 1521 Freundschaft mit Melanchthon geschlossen. 1522 wurde Camerarius zum Professor für Rhetorik ernannt. Später ging er als Rektor ans Egidiengymnasium nach Nürnberg, als Gräzistik-Professor nach Tübingen – schließlich als Rektor und Universitätsreformer nach Leipzig.
„Er war kein Theologe und fällt somit durch das Raster, obwohl er sich mit Fragen der Reformation beschäftigt hat“, sagt Philologieprofessor Thomas Baier, einer von drei Leitern des Projekts. Genauso wenig sei Camerarius Mediziner oder Dichter gewesen, auch wenn er sich für Pharmakologie interessierte und viele Gedichte schrieb. Auf alle Fälle aber sei er ein „enormer Netzwerker und Organisator“ gewesen, der mit führenden Gelehrten seiner Zeit in Kontakt gestanden habe.
Über 850 Drucke, an denen Camerarius beteiligt war, finden sich heute in Bibliotheken, beispielsweise in München, Leipzig und Wolfenbüttel. Sie stehen zum Großteil eingescannt im Internet zur Verfügung und wurden von den Würzburger Wissenschaftlern jetzt in einer Online-Datenbank bibliografisch erfasst. Das allerdings reicht nicht aus: „Aus den bibliografischen Angaben lässt sich nicht erkennen, welchen Beitrag Camerarius zu den jeweiligen Werken geleistet hat“, sagt Professor Joachim Hamm, Fachmann für die Literaturgeschichte des späten Mittelalters.
Gezielte Recherche in Datenbank
War Camerarius Autor, Kommentator oder hat er gar nur ein kurzes Begleitgedicht verfasst? Auf diese Fragen fehlen bisher Antworten, ebenso wie auf Fragen nach dem konkreten Inhalt der Schriften oder nach ihren Bezügen zu anderen frühneuzeitlichen Autoren.
Ziel des Projekts ist eine kommentierte Werkbibliografie, die im Internet frei zugänglich sein wird. „Wir erstellen ein sogenanntes semantisches Wiki – also eine Art Wikipedia mit speziellen Attributen, beispielsweise zu Personen und Sachbegriffen, die in Camerarius‘ Schriften auftauchen“, erklärt Altphilologe Dr. Ulrich Schlegelmilch. In welcher Angelegenheit hat sich Camerarius mit Ulrich von Hutten ausgetauscht? Mit welchen Humanisten stand er in Kontakt? Welche wissenschaftlichen Netzwerke hat er geknüpft? Solche Fragen sollen sich in Zukunft leicht und gezielt mit Hilfe des Wikis erforschen lassen.
Die Server der Unibibliothek sollen die erforderliche Datensicherheit des Camerarius-Wiki garantieren. Eine Prognose aber wagen die Philologen nicht: Ob das Wiki es schaffen wird, so wie die gedruckten Werke, ebenfalls 500 Jahre zu überdauern.