Die US-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum ist eine der profiliertesten Denkerinnen der Gegenwart. Ihre Theorien von einer gerechten Gesellschaft und ihr Fähigkeitenansatz werden weltweit diskutiert. Der Würzburger Sonderpädagoge Professor Reinhard Lelgemann und der Philosophieprofessor Jörn Müller haben sie für eine interdisziplinäre Tagung zum Thema „Menschliche Fähigkeiten und komplexe Behinderungen“ gewinnen können. Ein Gespräch über die Rechte von Schwerstbehinderten, Förderung und Inklusion.
Frage: Wie ist es gelungen, eine so renommierte Wissenschaftlerin wie Martha Nussbaum für eine Tagung nach Würzburg zu holen?
Prof. Jörn Müller: Ich habe bereits mit ihr und über sie publiziert, so dass ich ihr nicht ganz unbekannt war. Dennoch war es nicht einfach, sie für unser Projekt hier in Würzburg zu gewinnen. Frau Nussbaum serviert ungern alten Wein in neuen Schläuchen. Und das Thema Behinderung als Herausforderung für die Gerechtigkeit gehört gewissermaßen zu ihren älteren Themen, obwohl sie nach wie vor daran arbeitet.
Besonders interessiert hat sie an unserer Tagung die fächerübergreifende Kombination aus Sonderpädagogik und Philosophie. Sie reizt, dass wir uns sehr grundsätzlich mit ihrer Konzeption auseinandersetzen, sie kritisch beleuchten und mit Blick auf Fragen der Inklusion bewerten.
Prof. Reinhard Lelgemann: Wobei Inklusion nicht allein bildungspolitisch zu verstehen ist. Da Professor Müller und ich seit einigen Jahren Fragen der Gestaltung gerechter Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen auf dem Hintergrund der Arbeiten von Nussbaum diskutieren, entstand die Idee, Frau Nussbaum zu einer gemeinsamen Tagung einzuladen.
Nussbaum kritisiert die Vertragstheorien der politischen Philosophie. Menschen schließen zu ihren gegenseitigen Vorteil zusammen. Das schränkt zwar ihre Freiheit ein, bringt aber allen Vorteile. Was konkret kritisiert sie daran?
Müller: Als Vertragspartner sind nur Menschen interessant, die an Körper- und Geisteskräften ungefähr gleich sind und die sich durch den Vertrag gegenseitig schützen wollen oder wirtschaftliche Vorteile voneinander erwarten. Eine ganze Reihe von Menschen fällt durch diesen Rost. Nicht nur Behinderte, sondern auch Alte, Demenzkranke, Kinder und sogar Frauen. Hier setzt Nussbaum an und kritisiert, dass diese Gruppen in vertragstheoretischen Entwürfen auch kein Gegenstand von Gerechtigkeit mehr wären, nur über Barmherzigkeit, Wohltätigkeit ins Spiel kämen. Nur die vollwertigen Vertragspartner haben klar definierte Rechte und Pflichten.
Lelgemann: Vergessen werden in den klassischen Vertragstheorien auch diejenigen, die pflegend tätig sind, manchmal ein Leben lang. Dies sind in allen Gesellschaften vornehmlich Frauen.
Sind Vertragstheorien nur für die akademische Philosophie interessant oder haben sie Auswirkungen auf die praktische Politik?
Lelgemann: Ich gehe davon aus, dass sie einen sehr großen Einfluss haben. Nehmen sie die Konventionen der Vereinten Nationen. Da wurden zuerst Rechte für Frauen, dann für Kinder und jetzt für Menschen mit Behinderung formuliert. Als Sonderpädagoge fällt nir dabei auf, dass in diesen Entwicklungen immer wieder Menschen mit schweren und Mehrfachbehinderungen ausgeblendet werden. Das fasziniert mich an Frau Nussbaum, die in ihren Beispielen gerade auch solche Menschen und ihre Familien miteinbezieht und deshalb könnte diese Tagung ausgesprochen spannend und interessant werden.
Müller: Es gibt kein direktes Abhängigkeitsverhältnis zwischen politischer Philosophie und praktischer Politik. Aber Frau Nussbaum ist ein gutes Beispiel dafür, wie beides Hand in Hand gehen kann. Weil sie gesellschaftspolitisch sehr relevante Themen aufgreift, voranbringt und konkrete Folgerungen ableitet.
Zum Beispiel mit ihrem Fähigkeitenansatz. Wie ist der zu verstehen?
Müller: Menschenwürde haben wir von Natur aus, sie ist unverlierbar und unantastbar. Das steht im ersten Artikel unseres Grundgesetzes. Aber Würde ist auch etwas, das respektiert und aktiv gefördert werden muss. Dafür braucht es gewisse Anstrengungen, was Nussbaum in ihrem Fähigkeitenansatz abbildet: Nur wer über bestimmte Fähigkeiten und Möglichkeiten verfügt, kann überhaupt ein menschenwürdiges Leben führen. Und für jede ihrer zehn Fähigkeiten definiert Martha Nussbaum ein Minimalniveau, das erreicht sein muss, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Manche Menschen überschreiten diese Schwelle relativ leicht, für andere, etwa behinderte Menschen, bedarf es größerer, ja vielleicht sogar außergewöhnlicher Anstrengungen, um sie zu überschreiten.
Lelgemann: Anstrengungen aber nicht nur aufseiten des Behinderten, sondern der gesellschaftlichen Struktur, die diese Unterstützung bietet. Es sind Anstrengungen, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Aber nicht in dem Sinne, wir können es schaffen, aus allen behinderten Menschen völlig autonome Persönlichkeiten zu machen, wenn wir sie nur genug unterstützen. Das erscheint mir auch als ein Missverständnis in vielen Inklusionsdebatten.
Es kann nicht darum gehen, den Zustand von Behinderung und Abhängigkeit zu überwinden. Es geht darum, eine Gesellschaft zu denken, die diesen Zustand akzeptiert und eine umfassende Entwicklung aktiv unterstützt.
Ist unsere Gesellschaft schon so weit, dass sie Hilfsbedürftigkeit nicht als Störung empfindet, sondern als etwas, was zum Menschsein gehört?
Lelgemann: Ich habe nicht den Eindruck, dass das so ist. Unsere Gesellschaft, aber auch jede und jeder Einzelne möchte autonom sein und hat Sorge vor zu viel Abhängigkeit und persönlicher Hilfebedürftigkeit. Zudem ist unsere Gesellschaft so strukturiert, dass sie erfolgreich wirtschaften muss, damit Steuereinnahmen vorhanden sind, die aber wiederum begrenzt sind. Dann gilt es abzuwägen, welche schwierige Lebenssituation wir wie unterstützen. Da ist ein schwer behindertes Kind, da ist die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, deren Vater nicht zahlt. Dieses Spannungsfeld müssen wir aushalten und es ist ein Wert an sich, wenn wir es öffentlich thematisieren und diskutieren.
Verändert sich eine Gesellschaft nicht auf wunderbare Weise, wenn sie ihre Behinderten in die Mitte nimmt? Inklusion nutzt ja auch den nichtbehinderten Menschen, die Erfahrungen im Umgang sammeln, die in der Eisschlange das behinderte Kind nicht wie einen Außerirdischen angaffen, sondern selbstverständlich annehmen.
Lelgemann: Da haben wir in der deutschen Gesellschaft sicherlich noch viel Entwicklungspotenzial, die mögliche Grenze einer Gerechtigkeit ist sicherlich noch lange nicht erreicht. Unser historisch gewachsenes Denken in Sondersystemen erschwert viele Möglichkeiten des Zusammenlebens. Das betrifft nicht nur den schulischen Bereich, das betrifft auch alte Menschen. Wie versorgen wir alte und behinderte Menschen? Bilden wir die Pflegekräfte genügend aus und wie bezahlen wir diese? Die eigene Angst vor Behinderung erschwert natürlich auch den angstfreien Umgang mit vielen behinderten Menschen.
Wie wir Pflegekräfte bezahlen? Ich meine zu gering. Das gilt auch für Erzieher und andere soziale Berufe. Auch eine Frage der Wertschätzung?
Müller: Es geht um die Ansprüche, die alte oder behinderte Menschen haben, aber auch um die Ansprüche derjenigen, die sich um diese Menschen kümmern. Auch das sind nach Martha Nussbaum Gerechtigkeitsfragen. Denn die Pflege wird nach wie vor sehr stark ins Private verlagert, nach dem Motto: „Darum müssen sich die Familienmitglieder kümmern.“ Und deren Motivation soll dann eben Liebe und Zuneigung sein. Das führt aber gleichzeitig dazu, dass diese Arbeit gering geschätzt wird, weil sie ja „nur“ in der Familie geleistet werden kann. Man wird dieser Arbeit deshalb im wahrsten Sinne des Wortes nicht gerecht, weder materiell, noch von der gesellschaftlichen Wertschätzung her.
Lelgemann: Und es ist meist Arbeit, die von Frauen und geringer qualifizierten Menschen geleistet wird. Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, wenn soziale Einrichtungen oder Menschen mit Behinderung, die mit Assistenz selbstständig leben wollen, in die Situation kommen, nur gering oder überhaupt nicht qualifizierte Mitarbeiter einstellen zu können, da diese preiswerter sind. Hier wird ein Problem der Anerkennung der menschlichen Grunderfahrung vorhandener Abhängigkeit deutlich.
Wir sind alle auf Unterstützung angewiesen und abhängig, im Kindesalter, bei Krankheit, im Alter. Manche Menschen eben auch ein Leben lang. Die Frage der gerechten Gestaltung unserer Gesellschaft ist also kein Randproblem.
Könnte man die Thesen so zuspitzen: Eine Gesellschaft ist umso gerechter, je besser sie alte und behinderte Menschen integriert?
Müller: Ja, sie selbst beschreibt ihre Gerechtigkeitstheorie zwar als minimale Gerechtigkeitstheorie, aber ich halte sie sogar für sehr umfassend. Ihre Grundidee ist, dass eine Gerechtigkeitstheorie nur dann überzeugend ist, wenn sie alle Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben angemessen berücksichtigt. Auch die ganz schweren Fälle.
Lelgemann: Allerdings habe ich Probleme damit, wenn wir über Fälle sprechen. Ich würde dies lieber Herausforderungen grundlegender und besonderer Lebenssituationen nennen, denen sich Gerechtigkeitstheorien und Gesellschaften stellen müssen. Wobei wir in der Bundesrepublik eine gesellschaftliche Grundstruktur haben, die uns diese Themen auf einem recht hohen Niveau weiterdenken und -entwickeln lässt. Gleichzeitig ist es trotzdem notwendig, ausgesprochen aufmerksam zu bleiben.
Nehmen wir das Bundesteilhabegesetz, das unter Mitwirkung der betroffenen Verbände ein tendenziell würdevoller gestaltetes Leben ermöglichen sollte. Der erste vorgelegte Entwurf 2016 zeigte, dass in hohem Maße deutlich fiskalische Interessen der beteiligten staatlichen Stellen vorherrschten. Müller: Diese Korrektur akzeptiere ich gerne, wir reden nicht über Fälle, sondern grundsätzlich über Personen. Und zwar über Personen mit entsprechenden Ansprüchen, und das ist ja auch die Pointe bei Nussbaums Ansatz: Man muss fragen, wozu jeder einzelne Mensch fähig ist, muss jedes Individuum für sich betrachten. Das finde ich überzeugend: Jede Form von Inklusion muss auf die individuellen Bedürfnisse und Belange ausgerichtet sein. Das bedeutet eben nicht zwangsläufig Inklusion um jeden Preis, das bedeutet nicht, dass ein Schulsystem erst dann gerecht ist, wenn wirklich jeder in eine Regelschule integriert ist. Da gibt es noch viel zu diskutieren.
Im Gespräch mit Philosophin Martha Nussbaum
Martha Nussbaum: Sie hinterfragt die klassischen Gesellschaftstheorien, fordert mehr Emotionen in der Politik und beschäftigt sich mit Gerechtigkeit und dem guten Leben. Die Thesen der US-amerikanischen Philosophin (Foto: dpa) werden an Universitäten, aber auch in Selbsthilfegruppen und Initiativen auf der ganzen Welt gelesen und diskutiert. Nachdem sie sich mit der Philosophie des Aristoteles auseinandergesetzt hatte, begann Nussbaum den rationalen Individualismus in der modernen westlichen Welt zu hinterfragen. Sie erstellte eine Liste von Fähigkeiten, die als prinzipielle Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben verstanden werden können. Im vergangenen Jahr erhielt Martha Nussbaum den mit rund 430 000 Euro dotierten Kyoto-Preis. Die Inamori-Stiftung (1984 vom Gründer des japanischen Technologiekonzerns Kyocera ins Leben gerufen) würdigt damit das Lebenswerk von Persönlichkeiten, die sich mit herausragenden Leistungen um Kultur und Wissenschaft verdient gemacht haben.
Tagung in Würzburg: Am kommenden Mittwoch und Donnerstag, 28. und 29. Juni, nimmt die an der Universität Chicago lehrende Wissenschaftlerin an einer Tagung der Universität Würzburg zum Thema „Menschliche Fähigkeiten und komplexe Behinderungen“ teil, die vom Human Dynamics Centre der Uni und dem Universitätsbund unterstützt wird. Wissenschaftler der Philosophie und Sonderpädagogik, Vertreter von Behindertenverbänden sowie interessierte Gäste loten dann Fragen der Gerechtigkeit im Umgang mit behinderten und alten Menschen aus. Vortrag: Am Mittwoch hält Martha Nussbaum um 19 Uhr einen öffentlichen Vortrag in der Neubaukirche zu „Aging, Disability, Stigma and Disgust“ (Altern, Behinderung, Stigma und Abscheu). Sie wird den von ihr entwickelten Fähigkeitenansatz vorstellen, die Bedeutung für Fragen der Inklusion schwerstbehinderter Menschen erläutern und stellt sich der Diskussion. Der Vortrag ist auf englisch, Eintritt frei.