
Wer sonst bei Podiumsdiskussionen Zündstoff vermisst – diesmal erhielt er ihn. Rainer Kreuzer, promovierter Sozialpädagoge aus Hamburg, sorgte bei der Veranstaltung „Inklusion & Institutionen“ des Vereins Selbstbestimmt Leben Würzburg (WüSL) für reichlich Kontroversen. Kreuzer warf Einrichtungen der Behindertenhilfe vor, in erster Linie Gewinne erwirtschaften zu wollen. Dagegen wehrten sich Würzburger Einrichtungsträger vehement.
Dass das Thema unter den Nägeln brennt, zeigte die hohe Beteiligung: 200 Zuhörer begrüßte Barbara Windbergs, Gründungsmitglied des 1995 ins Leben gerufenen Vereins WüSL, im Matthias-Ehrenfried-Haus. Das Thema treibt Betroffene um. Viele wollen aus den Einrichtungen raus, wollen in eigenen Wohnungen leben. Sie wünschen einen ganz „normalen“ Arbeitsplatz und wollen nicht länger in die Werkstätte gehen.
Das Thema „Inklusion“ ist aber auch bei Einrichtungsträgern virulent. Längst haben sie es Menschen mit Behinderung ermöglicht, aus Heimen auszuziehen oder integrativ zu arbeiten. Doch nach wie vor gibt es Männer und Frauen, die in Wohnheimen leben. Und das sind zunehmend jene, die so gravierende körperliche, geistige und seelische Handicaps haben, die oft auch nicht sehen, nicht gut hören oder auch nicht sprechen können, dass sie sich allein damit schwer tun, ihre Wünsche zu artikulieren. „Sie bleiben nun zurück“, bemerkte Karin Baumgärtner vom Verein für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung, der das Körperbehindertenzentrum auf dem Heuchelhof trägt. Dies sei keine gute Entwicklung.
Zahl der „Behinderten“ steigt
Einhelligkeit bestand darin, dass in den Einrichtungen in den vergangenen Jahrzehnten viel Erfahrung gewonnen wurden, wie Menschen auch mit schwersten Behinderungen gefördert werden können. „Auf diesen Erfahrungsschatz dürfen wir nicht verzichten“, warnte Würzburgs Sozialreferentin Hülya Düber. Sie sprach sich für eine „Öffnung und Weiterentwicklung“ statt einer Abschaffung der Institutionen aus.
Hauptproblem von Referent Rainer Kreuzer ist die Tatsache, dass die Zahl der Menschen, die aufgrund einer Behinderung in Deutschland Eingliederungshilfe erhalten, in den vergangenen Jahren extrem angewachsen ist: Von knapp 325 000 im Jahr 1991 auf heute um die 850 000. Immer mehr Menschen erhalten also das Etikett „behindert“: „Darum kann von Inklusion keine Rede sein. Wir haben eine zunehmende Exklusion.“
Was es heißt, behindert zu sein und die „Eingliederungshilfe“ genannte Sozialleistung zu erhalten, verdeutlichte Ottmar Miles-Paul, Koordinator der Kampagne für ein gutes Bundesteilhabegesetz aus Kassel: „Wer Eingliederungshilfe erhält, ist arm oder wird arm gemacht und muss dann lebenslang in Armut leben. Denn er darf höchstens 2600 Euro ansparen. Das ist eine Sauerei.“
Wenig Geld haben vor allem Menschen, die in einer Werkstätte arbeiten. 180 Euro bekommen sie im Schnitt pro Monat – bei einem Achtstunden-Tag. Doch das sei nicht die Schuld der Institutionen, wehrte sich Wolfgang Trosbach, Vorsitzender der Lebenshilfe, die die „Mainfränkischen Werkstätten“ trägt: „Das Sozialgesetzbuch legt fest, dass Werkstattgänger keine Arbeitnehmer sind. Deshalb gibt es keinen Mindestlohn.“
Nicht haltbar sind auch für Johannes Spielmann, Geschäftsleiter der Blindeninstitutsstiftung Würzburg, die Pauschalvorwürfe gegen Institutionen: „Einrichtungen sind Orte, an denen Menschen gestärkt werden.“ Ziel sei es, sie so stark zu machen, dass sie selbstbestimmt leben können: „Über zehn Prozent der Werkstattmitarbeiter wohnen eigenständig.“
Rainer Kreuzer plädierte für einen gesellschaftlichen Wandel, um Wohnen und Arbeiten inklusiv zu ermöglichen.