Anne Böckler-Raettig kennt sich mit Freundlichkeit aus – am Würzburger Institut für Psychologie erforscht sie das soziale Verhalten und die soziale Wahrnehmung von Menschen. An der „Seid's freundlich“-Kampagne erkennt sie viele ihre Forschungsthemen wieder.
Frage: Frau Böckler-Raettig, Julian T., der Initiator von „Seid's freundlich“, will die Kette der Unfreundlichkeit durchbrechen. Lässt sich dieses Phänomen wissenschaftlich erklären?
Anne Böckler-Raettig: Ja, dieser Teufelskreis ist tatsächlich bekannt: Wenn mir gegenüber jemand unfreundlich ist, verhalte ich mich anders – ich ziehe mich etwa zurück oder werde selbst aggressiv. Und das vermindert die Chance für positive Interaktion mit anderen Menschen oder macht andere dann auch wieder wütend. Da reicht schon ein Gesichtsausdruck: Wenn in der U-Bahn alle grimmig schauen, schaut man selbst grimmiger und fühlt sich dann auch so. Das hat etwas mit Empathie zu tun – Gefühle sind ansteckend. Zum Glück funktioniert das genauso gut bei Freundlichkeit.
Genau da setzen die Sticker an. Wie erklären Sie sich die große Resonanz auf die Aktion? Denken die Menschen zu wenig über Freundlichkeit nach?
Böckler-Raettig: Nein, wir sind eigentlich sehr sensibel für unfreundliches Verhalten, das andere uns gegenüber zeigen – auch wenn wir bei unserem eigenen Verhalten manchmal etwas großzügiger sind. Aber das Gute an der Aktion ist, dass sie so einfach funktioniert und lustig ist: Eigentlich sehen die schwarzen Aufkleber mit der seriösen Schrift so ernst aus, als würden sie etwas verbieten wollen. Stattdessen steht dort einfach in Mundart „seid's freundlich“ – da muss ich lachen. Und selbst wenn die Freude nur fünf Minuten anhält, stecke ich andere damit an. Außerdem stellt der Sticker keine großen Forderungen, er unterstellt mir nicht implizit, unfreundlich zu sein, und es steckt auch kein schwerer moralischer Appell drin.
Wie selbstlos ist Freundlichkeit gegenüber anderen eigentlich tatsächlich?
Böckler-Raettig: Das ist eine sehr spannende und auch sehr alte Frage. Man geht in der Psychologie von verschiedenen Motiven für prosoziales Verhalten aus: Man kann anderen helfen, um Anschluss zu finden oder auch um einen guten Ruf zu erwerben. Und die Neurowissenschaften zeigen, dass unser Gehirn uns für unsere Freundlichkeit belohnt: Bestimmte Areale, die wir als Belohnungszentrum kennen, sind aktiviert, wenn wir teilen. So selbstlos scheint es also nicht zu sein. Das heißt aber nicht, dass wir Maschinen und nur nett sind, weil wir belohnt werden. Wir dürfen nicht vergessen, wie wichtig Altruismus und Hilfsbereitschaft für unsere Gesellschaft sind und wie schwierig – wenn beispielsweise Menschen bei SeaWatch ihren Urlaub auf dem Meer verbringen, um andere zu retten. Das muss gefördert werden, das passiert nicht einfach so.
Welchen Stellenwert hat denn die alltägliche Freundlichkeit für die Gesellschaft? Ist sie eine Art Kitt?
Böckler-Raettig: Erst mal funktioniert unsere Gesellschaft auch ohne ganz gut: Wir haben Gesetze, die unfreundliches Verhalten wie Diebstahl bestrafen. Und es gibt soziale Normen wie das Aufstehen für ältere Menschen im Bus oder dass man für Geschenke irgendwann etwas zurückgibt. Freundlichkeit im Alltag ist also nicht lebensnotwendig. Aber sie macht das Leben leichter und schöner und sie tut uns auch noch selber gut.
Was ist denn eigentlich dran, an regionalen Unterschieden: Sind die Unterfranken wirklich unfreundlicher als die Rheinländer?
Böckler-Raettig: Ich glaube nicht, dass die Menschen unterschiedlich freundlich sind. Es sind wohl eher die Gewohnheiten, die in bestimmten Regionen den Normen entsprechen. Für uns wirken Berliner vielleicht schnippisch, sie finden uns Süddeutsche dafür möglicherweise verkniffen. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, sich für andere einzusetzen, dann würden wahrscheinlich alle gleich reagieren. Foto: Daniel Peter