Im Juli 1914 war sie noch in Paris gewesen, wo der berühmte Maler Auguste Renoir sie porträtierte. Die deutsche Schauspielerin Tilly Durieux liebte Frankreich und sie verabscheute den Krieg, der wenige Tage nach ihrem Paris-Besuch begann – ebenso wie ihr Mann, der Berliner Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer.
Am 17. Februar 1917, als der Krieg schon mehrere Millionen Tote gefordert hatte und kein Ende abzusehen war, lud das Ehepaar etwa 300 Menschen zu einer Lesung aus einer unveröffentlichten Novelle in seinen Berliner Kunstsalon. „Die kriegsmüden Zuhörer wurden von dem Inhalt mitgerissen“, erinnerte sich Tilla Durieux später. „Ich las mit großer Hingabe, und so kam es, dass sich nach Beendigung der Vorlesung der ganze Saal wie ein Mann erhob und ,Friede! Friede!‘ schrie.“
Der Text, der die Menschen an jenem Samstag im vierten Kriegsjahr so aufwühlte, stammte von dem Würzburger Schriftsteller Leonhard Frank.
Von Tilla Durieux vorgetragen
Frank, den der Würzburg-Roman „Die Räuberbande“ 1914 schlagartig berühmt gemacht hatte, war ein ausgesprochener Kriegsgegner, der aus seiner Einstellung kein Geheimnis machte. Deshalb geriet er in Berlin in Schwierigkeiten und emigrierte Mitte 1915 in die neutrale Schweiz. Hier begann er, pazifistische Novellen zu schreiben. Die erste, betitelt „Der Vater“, konnte trotz Militärzensur noch in Deutschland veröffentlicht werden. Es war der im expressionischen Duktus verfasste Text, den die am Königlichen Schauspielhaus tätige Tilla Durieux in Berlin vortrug.
Die Titelfigur ist ein Hotelkellner, dem der Krieg das einzige Kind geraubt hat. Der Sohn sei auf dem „Feld der Ehre“ gefallen, teilt man dem Vater mit. Die Formulierung begleitet ihn, wohin er auch geht, was er auch tut. „Ehre, das war ein Wort und bestand aus vier Buchstaben“, lässt Frank den Vater in seiner Novelle sinnieren. „Vier Buchstaben, die zusammen eine Lüge bildeten von solch höllischer Macht, dass ein ganzes Volk an diese vier Buchstaben angespannt und von sich selbst in ungeheuerlichstes Leid hineingezogen hatte werden können.“
Der Vater erkennt, dass er selbst Verantwortung für den Tod seines Sohnes trägt. Er hat dem Kind gedankenlos Kriegsspielzeug geschenkt, hat ihn „patriotische Mordlieder“ gelehrt und in eine reaktionäre Jugendvereinigung geschickt. Eines Tages, der Sohn ist längst tot, marschieren Mitglieder eines solchen Vereins am Hotel vorbei und singen „Kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad‘.“ Als er das Lied hört, das auch sein Sohn gesungen hat, frisst sich Schuldbewusstsein ins Herz des Vaters.
Bei einer Versammlung von Arbeitern in einem Saal des Hotels bricht es aus ihm heraus. Aus der Selbstanklage wird eine Anklage der ganzen deutschen Gesellschaft. „Ich frage euch“, ruft der Vater den Arbeitern entgegen, „ist der kein Mörder, der ein unschuldiges Kind so erzieht, dass es erst zum Mörder werden muss, bevor es selbst ermordet wird?“ „Wird der so erzogene Unschuldige, wenn er einen gleichfalls schlechtberatenen Unschuldigen erschießt, nicht zum Mörder?“, fragt der Vater. „Gibt es heute in Europa keinen Menschen mehr, der nicht ein Mörder wäre?“
Aufschrei in der Presse
Tilla Durieux? Lesung des pazifistischen Frank-Textes bewirkte einen Aufschrei in der konservativen Presse, die fleißig weiter Siegeszuversicht schürte. Dabei waren die Aussichten auf einem mit Gebietsgewinnen verbundenen „Siegfrieden“ kurz vor der Lesung gerade erst dramatisch gesunken. Am 1. Februar 1917 hatte Deutschland den unbegrenzten U-Boot-Krieg gegen Großbritannien erklärt, was wenig später zum Kriegseintritt der USA aufseiten der Alliierten führte. Zum Sprachrohr der unerbittlichen Kriegstreiber machte sich die „Rheinisch-Westfälische Zeitung“. Deren Autor wandte sich in einem Artikel ausdrücklich an „die Kreise, die es angeht“ – also die Militärzensur – und charakterisierte den von Leonhard Frank in seiner Novelle gezeichneten Vater als „neurasthenischen Pazifisten“, dessen „an Landesverrat grenzende Tiraden“ den „wirksameren Teil des Stückes“ bildeten.
Am meisten empörte den Autor, dass überhaupt eine öffentliche Lesung des Textes stattfinden durfte und dass Tilla Durieux der „merkwürdigen Friedenspropaganda mit allem Glanze ihrer schauspielerischen Begabung zum vollen Erfolg“ verhelfen konnte.
Leonhard Frank, der die erste Novelle wie in Trance geschrieben hatte, fügte fünf weitete hinzu. Ihm, der sich dem Kriegseinsatz entzogen hatte und der nie an der Front war, gelang es, die schauerliche Wirklichkeit des Krieges zwölf Jahre vor Remarques Roman „Im Wesen nichts Neues“ plastisch und illusionslos zu beschreiben.
Schockierende Sprache, deutliche Sprache: Mord
Franks Sprache war für Ästheten schockierend. In der Novelle „Der Kriegskrüppel“ amputiert ein Staatsarzt am laufenden Band Gliedmaßen. „Die abgesägten Hände, Arme, Füße, Beine schwimmen in Blut, Watte und Eiter in einem meterhohen, zwei Meter breiten fahrbaren Kübel, der bei der Türe in der Ecke steht und jeden Abend ausgeleert wird“, heißt es in dem Text. Der übermüdete Arzt denkt, was die Verstümmelten vor Schmerz nicht mehr denken können. „Für was, für wen leiden diese Millionen ihre Schmerzen? Warum müssen Millionen Menschenbeine, Millionen Arme abgesägt werden? Und für was wird gekämpft und ermordet?“
Da war es wieder, wie schon in der Novelle „Der Vater“: das Wort Mord. 14 Jahre später schrieb Kurt Tucholsky in der Zeitschrift „Weltbühne“ ganz im Sinne Franks den Satz „Soldaten sind Mörder“. Der verantwortliche Redakteur Carl von Ossietzky wurde wegen Beleidigung der Reichswehr angeklagt, überraschenderweise aber freigesprochen. 1917, mitten im Krieg, erschien die Idee, Soldaten seien Mörder, den Herrschenden, die so gern vom „Feld der Ehre“ und dem „Heldentod“ schwadronierten, untragbar. Zudem gab es zu diesem Zeitpunkt noch eine Mehrheit im Reichstag, die stets neue Kredite für die Fortsetzung des Kriegs bewilligte. Leonhard Frank gehörte einer kleinen, doch stetig wachsenden Minderheit an, die den Krieg ablehnte.
Der Satz „Soldaten sind Mörder“, inzwischen zu einer Parole von Pazifisten und Antimilitaristen geworden, bot auch in der Bundesrepublik Anlass für verschiedene Gerichtsverfahren bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Dieses entschied 1995, dass die Verwendung des Zitats verfassungskonform ist.
Im Herbst 1917 erschien Franks Novellensammlung unter dem Titel „Der Mensch ist gut“ in einem Züricher Verlag; in Deutschland wurde das Buch sofort verboten und durfte daher nicht eingeführt werden. In der neutralen Schweiz war kaum Leserschaft für ein Antikriegsbuch zu gewinnen, doch Frank hatte die Texte ja gerade für die Deutschen geschrieben, die er aufrütteln und mit der Grausamkeit des Krieges konfrontieren wollte.
Mit List an der Zensur vorbei
In seiner romanhaften Autobiografie „Links wo das Herz ist“ beschrieb Leonhard Frank später, mit welcher List er das Buch doch nach Deutschland brachte. Ein ungenannter Verehrer, dessen Namen er nie preisgab, arbeitete in der Propaganda-Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin. Frank fragte ihn per Brief, „ob er ihm eine Anzahl Exemplare und eine Namensliste senden dürfe, und bekam von dem Träumer, der nicht zu ahnen schien, welcher Gefahr er sich aussetzte, in einem Dankbrief die zusagende Antwort.“
Frank kaufte von seinem Honorar tausend Exemplare und ließ sie in unverdächtige Einbanddeckel binden, die er in einem Züricher Antiquariat erworben hatte, darunter „Ritt durch die Wüste“. Auf dem Titel ritt ein Beduine im weißen Gewand auf seinem Kamel der untergehenden Wüstensonne entgegen. Im Innern war Franks Abrechnung mit dem Krieg versteckt.
Heimlich weitergegeben, unter der Hand verteilt
Drei große Kisten wurden nach Berlin geschickt und wenig später teilte der Empfänger Frank mit, dass er die Bücher mit dem brisanten Inhalt an jene Personen geschickt hatte, deren Namen auf der Liste standen.
Unter der Hand wurde „Der Mensch ist gut“ in Deutschland weitergegeben. Gymnasiasten verteilten einzelne Blätter untereinander und jeder schrieb eine Anzahl Seiten mit der Hand ab. Die SPD ließ eine große Anzahl des Buches auf Zeitungspapier drucken und schickte sie, wahrscheinlich ebenfalls mit einem unauffälligen Titelblatt versehen, an die Front. In Würzburg kam der Buchhändler und örtliche SPD-Vorsitzende Felix Freudenberger auf unbekanntem Weg an das Buch. Zensurbeamte erfuhren davon, und beschlagnahmten zahlreiche Exemplare in seinem Laden in der Augustinerstraße.
Im März 1918 besuchte der Philosoph Otto Buek Leonhard Frank in Zürich und schilderte die Situation in Berlin: „Hunger, Hunger, und man sehe nur noch alte Männer und Kriegskrüppel“, heißt es rückblickend in Franks Memoiren. „Kein Mensch glaube mehr an den deutschen Sieg.“ In diese düstere Stimmung habe das Buch „hineingeleuchtet wie ein Himmelskörper“. Wenn ein Buch den Krieg verkürzen könne, dann „Der Mensch ist gut“.
Leonhard Frank sollte sich täuschen
Frank notierte auch seine eigenen Gedanken: „Wenn es den Krieg auch nur einen Tag verkürzt! Wenn es die kommenden Generationen auch nur ein bisschen nachdenklicher macht!“ Er täuschte sich. Der Erste Weltkrieg währte noch weitere acht Monate. Einundzwanzig Jahre später brach Deutschland den Zweiten Weltkrieg vom Zaun.