Mit Menschen zu reden, fällt Philipp schwer. Kleine Zeichen, die die meisten intuitiv erkennen – zum Beispiel, ob der Gesprächspartner etwas sagen möchte oder noch interessiert ist – nimmt er nicht wahr. Noch schwieriger wird es, wenn er sich in einem Restaurant oder an der Straße unterhalten will: "Da klingt alles gleich laut und ich werde schnell abgelenkt", erklärt der 26-Jährige. Dagegen fällt es ihm leicht, sich in seiner Freizeit zu beschäftigen: Er interessiert sich für Technik, hat alle Möbel für seine Wohnung selbst gebaut oder eine Maschine gebastelt, mit der er Schokolade herstellen kann.
Philipp ist Autist. Genauer gesagt wurde bei ihm ein atypischer Autismus diagnostiziert: "Das Autismus-Spektrum ist groß", erklärt Regina Taurines, stellvertretende Direktorin der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiatrie, "es kann unterteilt werden in frühkindlichen Autismus, Asperger-Syndrom und atypischen Autismus." Beim frühkindlichen Autismus treten eine Verzögerung der Sprachentwicklung, Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation und Festhalten an bestimmten Verhaltensmustern auf, und zwar vor dem dritten Lebensjahr. Beim atypischen Autismus fehlen einzelne Symptome, oder sie treten später auf. Das Asperger-Syndrom unterscheidet sich von den anderen beiden Formen dadurch, dass Betroffene keine Sprachprobleme oder Intelligenz-Beeinträchtigung haben. Da die Übergänge fließend seien, unterteile man heutzutage weniger in die drei Gruppen, sondern spreche von der "Autismus-Spektrum-Störung", sagt Taurines.
Jeder Tag war eine Herausforderung
"Dass es nicht so richtig klappt mit anderen Menschen, ist mir schon immer aufgefallen", sagt Philipp, der als Informatiker arbeitet. Jeder Tag sei eine Herausforderung für ihn gewesen, er habe immer unter Druck gestanden, weil soziale Interaktionen für ihn so schwierig waren. "Irgendwann möchte man unbedingt wissen, was da eigentlich los ist", erklärt er. Dass er Autist ist, sei ihm mit 15 Jahren klar geworden, nachdem er eine Dokumentation darüber gesehen hat. Drei Jahre später ist er selbstständig zu einem Therapeuten gegangen. Seine Eltern glaubten vorher nicht, dass er eine autistische Störung hat, obwohl sogar Philipps Lehrer sie darauf hingewiesen haben.
Regina Taurines sagt, dass es vielen Autisten wie Philipp gehe: "Das Umfeld weiß nicht, warum sich der Betroffene so verhält und ihm ist nicht klar, warum es ständig zu Konflikten und Missverständnissen kommt. Das ist oft der Ausgangspunkt dafür, dass sich Autisten an eine Beratungsstelle oder einen Therapeuten wenden." Philipps Therapeut empfahl ihm das Autismus Kompetenzzentrum Unterfranken (AKU) in Würzburg, um sich beraten zu lassen.
Für Autisten, Angehörige und Fachkräfte
Das Zentrum ist eine Beratungs-, Informations- und Netzwerkstelle. In diesem Jahr feiert die Einrichtung ihr zehnjähriges Bestehen. "Wir beraten Autisten und Angehörige in jeder Lebenslage", erklärt Daniela Ursel, die dort seit Beginn als Sozialpädagogin arbeitet. Momentan seien die Klienten zwischen drei und 67 Jahre alt.
Die Anliegen sind unterschiedlich: Ursel berät Autisten zum Beispiel dazu, wo sie sich diagnostizieren lassen können oder wie Familien entlastet werden können. Häufig wird sie auch von Firmen kontaktiert und gebeten, dort über Autismus aufzuklären.
Bedarf an Diagnostik- und Therapieangeboten
Angestoßen wurde die Gründung des AKU vom Elternverband Autismus Unterfranken, der eine zentrale Beratungsstelle einrichten wollte. "Heute hat das Zentrum elf Träger, dadurch sind wir mit allen Bereichen eng vernetzt", erklärt Ursel. In den letzten zehn Jahren habe sich vieles weiterentwickelt, es gebe zum Beispiel Elternstammtische, Außenberatungsstellen oder einen moderierten Treffpunkt für Erwachsene mit Autismus-Spektrum-Störung. "Es fehlen aber immer noch diagnostische und therapeutische Anlaufstellen in der Region", sagt sie. "Deshalb kann es sein, dass Erwachsene lange auf eine Diagnose warten müssen."
Laut Taurines, die Mitglied des AKU-Vorstands ist, haben etwa ein Prozent der Menschen eine Autismus-Spektrum-Störung. Manche seien pflegebedürftig, haben keine Sprache entwickelt und brauchen immer Unterstützung. Andere haben eine Familie und einen Job, aber es fällt ihnen schwer, Beziehungen zu gestalten oder Reaktionen von anderen zu interpretieren.
Smalltalk machen und Zeichen erkennen
Philipp hat sich mit seiner Diagnose abgefunden. Er weiß, dass er sich für viele Themen extrem interessiert und wie sein Körper auf Sinneseindrücke reagiert: Zum Beispiel trägt er draußen wegen der Helligkeit oft eine Sonnenbrille oder kocht sehr aufwendig, da durchschnittliches Essen nicht genug Geschmack für ihn hat. "Nur der Umgang mit Menschen will einfach nicht klappen", sagt Philipp. Deshalb gehe er zur Therapie, alle zwei Wochen für 50 Minuten. "Dort besprechen wir hauptsächlich meine Probleme auf der Arbeit, wie sie entstanden sind und was ich dagegen tun kann", erklärt er.
"Die Therapien sehen sehr unterschiedlich aus", ergänzt Regina Taurines. Die Betroffenen lernen zum Beispiel, wie man Smalltalk macht und an welchen Zeichen erkennbar ist, ob der Gesprächspartner noch interessiert ist. "Diese Signale können viele Autisten nicht intuitiv wahrnehmen", sagt Taurines, "sie müssen lernen, Emotionen zu lesen – und das kann sehr anstrengend sein."
Menschen sollten offener werden
Philipp merkt, dass er durch die Therapie Fortschritte gemacht hat. Der Arbeitsalltag stresst ihn, "aber in meiner Freizeit und wenn ich mit Freunden unterwegs bin, läuft es eigentlich gut", sagt er, "dann mache ich nur das, worauf ich wirklich Lust habe und erlebe viel."
Er würde sich wünschen, dass Menschen offener gegenüber Autisten werden. "Es geht nicht darum, dass jemand eine Krankheit hat und andere deshalb aufpassen müssen", sagt er. "Hilfreicher wäre es, wenn die Leute Probleme direkt ansprechen würden."