Es sind manchmal nur Augenblicke oder ein Halbsatz, der die Welt verändert. Für den evangelischen Pfarrer Werner Schindelin bekam ein solcher Augenblick Tragweite: als Pfarrer in der Auferstehungskirche im Frauenland und zugleich Klinik-Pfarrer im König-Ludwig-Haus hatte er vor 40 Jahren ein Schlüsselerlebnis, aufgrund dessen immer mehr Behinderte Menschen betreut und gefördert wurden, Schulunterricht erhielten und schließlich auch Möglichkeiten zum Wohnen. Das Körperbehindertenzentrum am Heuchelhof ist ein Begriff; ohne den Pfarrer stünde es heute nicht.
Heute ist Schindelin 77 Jahre alt und gibt nach und nach die Verantwortung in andere Hände. In einem ersten Schritt war dies sein Amt als 1. Vorsitzender der „Stiftung Wohnstätten für Behinderte“. Seit 1. Januar teilen sich nun Diethard Köhler und Wolfhard Preuss den 1. Vorsitz; beide haben jahrelange Erfahrung in der Behindertenarbeit.
Noch einmal der Blick zurück, damals im König-Ludwig-Haus: „Eines Tages war ein Mädchen in die Klinik eingeliefert worden, das gelähmt war und eine schwere Spastik aufwies. Aus ihrem Mund lief dauernd Speichel. Ich konnte es schlecht ertragen und habe mich weggewendet“, berichtet der Pfarrer, und weiter: „In diesem Augenblick hatte ich den Gedanken: Was hätte Jesus an meiner Stelle getan? Also drehte ich mich wieder um und lachte sie an. Da lachte sie auch, mit dem ganzen Körper! Und ich sah ihre Schönheit“.
Als die Mutter des Kindes erfuhr, dass ihre Tochter für immer an Händen und Füßen gelähmt sein würde, wollte sie sich im ersten Augenblick das Leben nehmen, „weil weit und breit keine Hilfe da war“, berichtet Pfarrer Schindelin. „Wir holten damals Adressen, fuhren in die Dörfer und Stadtteile, um Familien mit behinderten Kindern aufzusuchen. Eine Medizinaldirektorin im Gesundheitsamt – ihr Sohn Thomas war blind und spastisch gelähmt – schrieb die Einladungen zur Gründung eines Vereins in die Gaststätte Erzherzog Karl in der Annastraße“. Dies war der Ursprung für den „Verein für spastisch Gelähmte und Körperbehinderte“, aus dem später der „Verein für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung“ wurde.
Weil die Behörden seinerzeit keine Aussichten auf eine Tagesstätte oder gar auf eine Schule machten, „fingen wir am 1. April 1970 mit acht Kindern in den damals schon barrierefreien Gemeinderäumen der Auferstehungskirche an“, so Schindelin. „Zunächst ging es vor allem um Gemeinschaftsspiele, damit die Kinder mobiler werden“.
Marlena Weber und Eva Lessig, beide Frauen bekannter Würzburger Künstler, wohnten in der Nähe. Sie hatten Vorerfahrungen im sozialen Bereich, Lessig als ausgebildete Kindergärtnerin bei geistig Behinderten und Weber als Heilgymnastin und Sportlehrerin. Sie waren die ersten Leiterinnen der Gruppe, dazu kam die geschulte Physiotherapeutin Helga Jung.„Der Vorstand des Vereins bestand damals aus Oberarzt Dr. Herrmann Dennemann, Lehrer Hans Schöbel und mir. Die Verwaltung war bei uns im Pfarramt.“
Es fanden sich immer mehr Helfer, so dass die Behinderten bald in einem gestifteteten Bus abgeholt und wieder nach Hause gebracht wurden. Weil das Gefährt vor Altersschwäche öfter stehen blieb, rief Schindelin die „Aktion der 100 Freunde“ ins Leben. 100 Freunde zahlten jeweils 100 Mark, und so wurde ein neuer Bus gekauft, den die Johanniter fuhren – heutzutage fahren weit über 50 Busse.
Die Zahl der Kinder stieg rapide an, man wich noch in die Bücherei in der katholischen St.-Alfons-Kirche aus und schließlich in das leer stehende ehemalige Schülerheim St. Konrad der Kapuziner in der Nikolausstraße, nahe der Löwenbrücke. 1972 war Umzug dorthin, aber auch hier wurde es bald zu eng. Dann wurde das Körperbehindertenzentrum am Heuchelhof errichtet. „Hans Schöbel kümmerte sich um Frühförderung und die Schulen in Würzburg und Aschaffenburg. Wir hatten in kürzester Zeit 400 Schüler. Ich selbst kümmerte mich um das Wohnen der entlassenen Schüler.
So entstand vor 18 Jahren die „Stiftung Wohnstätten für Behinderte“, damit Eltern für ihre erwachsen gewordenen Söhne und Töchter eine eigene Wohnmöglichkeit in der Nähe bekamen. Aus diesen Aktivitäten erwuchs bald ein riesen Netz der Hilfe, das sich immer weiter ausbreitete.
Schindelin, nun 1. Vorsitzender der Stiftung, nahm weitere Aus- und Umbauten in die Hand.
„In unseren Einrichtungen wohnen fast 100 Leute mit Behinderung. Manche sind von Geburt an oder im Geburtsvorgang Gelähmte, andere durch Krankheit. Wir holten auch einen wohnungslosen Rollstuhlfahrer von der Straße, und wir haben einer jungen Frau eine Heimat gegeben, die durch einen Unfall gelähmt war“.
Aus dem Mädchen von damals, das mit dem Pfarrer so gelacht hatte, wurde eine heute über 50-Jährige, die im Konradsheim wohnt. Schindelin: „Wir haben sie nicht im Stich gelassen“. Einige Bewohner des ,Konradsheimes haben Arbeit in den Mainfränkischen Werkstätten, einige sind in Rente, und manch ein Bewohner ist gestorben, „auch das gehört zu uns“, sagt der Pfarrer nachdenklich.
Schindelin setzte sich auch für Arbeitsmöglichkeiten für die Behinderten ein: Vor zehn Jahren ergriff er die Initiative für einen runden Tisch bei der Regierung und es entstanden Betriebe auf dem zweiten Arbeitsmarkt, in denen Behinderte angestellt sind, zum Beispiel in der Lohnbuchhaltung, im Garten- und Landschaftsbau, bei der Versorgung von Tieren oder im Kartoffelschälbetrieb, oder sie bereiten Mittagessen für Schüler zu.
Und wie fühlt sich Schindelin jetzt, nach all seinen Aktionen und seinem schier unermüdlichen Einsatz?
„Das ist mein Glück und mein Pech, dass ich halt doch mehr sehe als andere, und dass mich das Schicksal von Menschen nicht loslässt - und dass ich mir vorstelle, was Jesus an meiner Stelle getan hätte.“ Als ihm einmal ein Schüler einer sechsten Klasse erklärte, in den Ferien schlafe er aus, bummle und schaue Fernsehen, da antwortete ihm sein Religionslehrer Schindelin: „So alt wie du möchte ich nie werden!“ Er lacht herzlich: Manchmal fühle er sich eben jünger als seine Schüler.
Neben der Bauaufsicht über all seine Projekte ist der Pfarrer auch noch im Vorstand des Vereins für Körper- und Mehrfachbehinderte. Schindelin: „Man hat mich gebeten, noch zu bleiben, bis kompetente Jüngere gefunden sind“. Und so steckt der quirlige Mann eben noch in vielen anderen Projekten, ist Initiator den PSA (Pädagogische individuelle Soziale Assistenzen), die junge Leute zu Schulabschluss und Berufsausbildung bringen will, gehört der Friedenspreis-Gruppe Ölzweig an, die Aktivitäten für den Frieden übernimmt – und noch viel mehr. In wie vielen Vereinen und Initiativen er noch tätig ist? „Ich weiß nicht, wie viele...“ flunkert er?
„Ich weiß nicht, was aus meinen winzigen Worten wird. Aus einem Halbsatz kann eine Welt entstehen. Ich denke mir: Auch die Gedanken sind eine Saat“. Und wenn der Pfarrer sich verabschiedet, dann sagt er selten „tschüss“, sondern eher „ade“, die lateinische Abkürzung von ad Deum. Zu Gott hin.
Die „Schindelin-Häuser“
Das Konradsheim wurde seit 1972 unter der Regie Schindelins behindertengerecht umgestaltet. Bald lebten 30 Behinderte Menschen dort. 1999 kam durch ein Erbe ein Appartement im Trojaweg (Heuchelhof) dazu.
Der Kilianshof: Im Jahr 2000 kaufte die Stiftung ein renovierungsbedürftiges Haus in der Gotengasse neben der Polizeiinspektion in der Augustinerstraße, den heutigen Kilianshof. Er wurde komplett behindertengerecht umgebaut und das Haus um eine 4. Etage aufgestockt.
Die Holzmühle in Lengfeld kam 2006 dazu. Am 1. Mai 2007 konnten die ersten Bewohner einziehen. Es sind relativ selbstständige Menschen, die ambulante Betreuung benötigen und nicht in ein Wohnheim wollen. In der Holzmühle leben sie in einer Wohngemeinschaft.
In Gerbrunn gibt es noch eine Wohngemeinschaft in einer 110 Quadratmeter großen Drei-Zimmer-Wohnung.
Meist bekommen die nur irgendwelche Mandatsträger, die genügend Jahre auf Kosten der Steuerzahler verlebt haben.