Am Abend des 5. Januar 1999 betritt ein Mann, etwa 1,70 Meter groß und kräftig, das Lokal des Deutsch-Türkischen Kulturvereins in der Weißenburgstraße, das Gesicht unter einer Motorrad-Unterziehhaube verborgen. Ein Dutzend Gäste sehen, wie er mit einer Schusswaffe auf Edin Saraç, den 55-jährigen Wirt, zielt – und fünfmal abdrückt. Saraç, türkischer Staatsbürger, stirbt im Kugelhagel. Bis heute kennen die Ermittlungsbehörden die Identität seines Mörders nicht.
Am 9. September 2000 treffen in Nürnberg acht Schüsse aus zwei Pistolen den Blumenhändler Enver Simºek; zwei Tage später stirbt der Familienvater im Krankenhaus. Dieser Mord ist der erste von zehn tödlichen Anschlägen, die dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugerechnet werden.
Erst im November 2011, mit dem Suizid der mutmaßlichen Mörder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, wurde die Existenz des NSU öffentlich bekannt. Bekannt wurde bald auch, dass Ermittler und Verfassungsschützer bei der Aufklärung der Mordserie versagt hatten, mit einer beispiellosen Pannenserie und undurchsichtigen Geheimdienst-Manövern.
Im Dezember 2011 erinnerte das türkische Boulevardblatt Hürriyet („Freiheit“) an den Anschlag aus der Würzburger Weißenburgstraße und rekapitulierte: Zunächst war die Polizei von einem tödlichen Zwist zwischen Vater und Sohn ausgegangen. Dann ging die Vermutung um, Edip Saraç sei getötet worden, weil er einem Freund für ein Darlehen über 350 000 Mark gebürgt hatte und nicht dafür geradestehen konnte. Die Staatsanwaltschaft Würzburg schloss damals nicht aus, dass Schutzgelderpressung oder Geldwäsche im Spiel seien. Und bis heute hält sich in der türkischen Gemeinde in Würzburg das Gerücht, eine türkische Mafia aus Ludwigsburg habe einen Auftragskiller geschickt.
Unklar war auch, was es mit dem „Deutsch-Türkischen Kulturverein“, dem das Mordopfer laut Hürriyet vorstand, auf sich hatte. Die Main-Post berichtete im Januar 1999, dass der Verein weder dem Sozialreferenten der Stadt, noch dem Vorsitzenden des Ausländerbeirats bekannt waren, und auch nicht dem Amtsgericht, wo das Vereinsregister verwaltet wird.
Die Ermittlungsbehörden stellten eine 25-köpfige Sondereinheit zur Aufklärung des Mordes zusammen; für sachdienliche Hinweise wurde damals eine Belohnung von 10 000 Mark ausgesetzt. Ohne Erfolg.
Nach dem Aufdecken der NSU-Verbrechen tauchte Jahre später dann die Frage auf, ob auch die die Ermordung des Edip Saraç aufs Konto der Nazis gehen könnte. Boris Raufeisen, Oberstaatsanwalt in Würzburg, sagt dazu, der Fall sei „x-fach“ auf Zusammenhänge mit der Mordserie des NSU geprüft worden: „Da ist nichts dergleichen gewesen“.
Tatsächlich gibt es im Tathergang Unterschiede zu den Verbrechen, die dem NSU zugerechnet werden. Da ist das Mordwerkzeug. Die Täter schossen nach derzeitigem Kenntnisstand immer aus derselben Waffe, einer Pistole des Typs Èeská. In zwei Fällen verwendeten die mutmaßlichen Mörder eine weitere, bislang nicht zugeordnete Waffe. Zudem hatten sich Mundlos und Böhnhardt bei ihren bekannten Morden nicht maskiert. Schließlich sind beide Terroristen über 1,80 Meter groß gewesen, während Zeugen den Verbrecher, der Saraç erschoss, gut zehn Zentimeter kleiner schätzen.
Nach Sichtung aller Ermittlungsergebnisse ist Werner Schindler, der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Bayerischen Landtags, sicher, dass Mundlos und Böhnhardt nicht in Würzburg waren. Der Mord an Edin Saraç bleibt ungeklärt.
Dass ausländische Mordopfer nur von der Mafia sein können, und rassistische Motive von vornherein ausgeschlossen werden, soweit waren wir ja schon.