
In Würzburg ist Karl-Heinz Seidel (73) vor allem für seine großen Fotos moderner Architektur bekannt. Konzertgänger begegnen ihm als einem Mitverantwortlichen für das Musikprogramm an der Gethsemanekirche auf dem Heuchelhof. Jetzt publizierte der vielseitige Informatiker obendrein einen längeren erzählenden Text und überrascht die Kulturszene gleich mit mehreren neuen Facetten seines Lebens.
Der illustrierte 164-Seiter "Ein trügerisches Gefühl von Freiheit" “ berichtet von Karl-Heinz Seidels 1960er Jahren als junger Christ in Görlitz, von seinem Studium in Leipzig bis zu seinen Berufsjahren als junger IT-Spezialist in Ost-Berlin. Schließlich, 1989, flieht er mit seiner frisch angetrauten zweiten Ehefrau über Ungarn nach Westdeutschland.
Alltagsschilderungen wechseln mit eminent bewegenden Erlebnissen. Nur: Was gehört zu den herausragenden Ereignissen, was zum Alltag, wenn der Alltag in einer Überwachungsdiktatur den Bürgern, und gerade den nicht ganz linientreuen, jederzeit herausragend üble Erlebnisse eintragen konnte? Karl-Heinz Seidel betrachtete sich von Jugend auf als jemand, der zu "den Anderen" gehört. Im alltäglichen Kollegenkreis, beim freundlichen Handwerker von nebenan und anderen konnte er nur schwer erkennen, auf welcher Seite die jeweiligen Mitmenschen standen.
Jugendweihe neben Konfirmation als sichere Grundlage
Das könnte nun eine gespenstische Atmosphäre schaffen. Tatsächlich liest sich das Buch nicht düster. Es vermittelt eher die Stimmung: Es ist klar, dass hier einiges unklar bleibt. Der junge Herr Seidel hatte andererseits – zumindest für einen christgläubigen Top-Informatiker – streckenweise ein recht unbekümmertes Gemüt. Er hatte aber auch die überraschende Erfahrung gemacht, dass man ideologisch abweichen und dennoch offen mit linientreuen Kommilitonen diskutieren konnte. Und wiederum andererseits: Selbst eine Familie von evangelischen Abweichlern war "schleichend mit diesem System verwoben" worden. So empfiehlt Vater Seidel dem heranwachsenden Karl-Heinz, außer der Konfirmation auf jeden Fall auch die Jugendweihe zu feiern. Ein solches Leben schafft eine sichere Grundlage für Zweideutig- und Doppelwertigkeiten vieler Art. Genau daran kann der Leser teilhaben – und daraus lernen.
"Ein trügerisches Gefühl von Freiheit" zeigt nämlich Nuancen aus dem Leben in einer so genannten Volksdemokratie, Nuancen, die die Lesenden mit einem Schablonendenken in Schwarz-Weiß, Gut-Böse nicht zuverlässig erfassen können. Das wäre in der heutigen Zeit der großen Vereinfachung schon Moral und Nutzanwendung genug: Wir sollten lernen, die Dinge differenziert und vielleicht erst einmal ohne Bewertung zu betrachten, sollten uns Zeit nehmen, um gegebenenfalls auch unverhoffte Konsequenzen zu durchdenken. Ob sich das therapeutische Schreiben für Karl-Heinz Seidel gelohnt hat? Sicher ist jedenfalls: Das therapeutische Lesen wird sich lohnen.
Als unterhaltsame Zugabe erfährt der Leser etliches über die Rolle der Kirche in der DDR, über das Organisieren von Baustoff und anderer Tauschware, den internationalen Leipziger Messebetrieb, den gänzlich unrenovierten Prenzlauer Berg und vieles mehr. „Ein trügerisches Gefühl von Freiheit. Grenzüberschreitungen. Persönliche Erfahrungen mit dem Machtapparat der DDR“ – so der vollständige Titel – erschien bei Books on Demand, vertrieben u. a. über Amazon, Preisangabe 18 Euro. Im Buchhandel lässt sie sich mit der ISB-Nummer 978-3-7597-6795-0 bestellen.