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Würzburg
Wenn Herzschwäche junge Leute trifft: Geerbte Volkskrankheit
Ist Herzinsuffizienz nicht eine Volkskrankheit? Sicher. Aber bei den Patienten von Brenda Gerull betrifft die Erkrankung manchmal nur ein oder zwei Familien weltweit.
Die Genetikerin Professor Brenda Gerull (links) mit einer Mitarbeiter im Labor am DZHI.
Foto: Thomas Obermeier | Die Genetikerin Professor Brenda Gerull (links) mit einer Mitarbeiter im Labor am DZHI.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:56 Uhr

Bitte keinen Sport. Ein bisschen Radfahren vielleicht. Spazierengehen. Aber Krafttraining? Ganz schlecht. Leistungssport? Höchstrisiko.

Was die Kardiologin Professor Brenda Gerull ihren Patienten rät, mag seltsam klingen. Ist Bewegung nicht gesund und gut? Gerade bei Herz-Kreislauferkrankungen? Brenda Gerull zieht ein Stethoskop und ein Maßband aus ihrer Kitteltasche und nickt. „Stimmt, Sport ist normalerweise sehr gut“, sagt die Professorin. „Aber bei unseren Patienten ist Sport sehr schlecht und kann ein Trigger, ein Auslöser für Herzrhythmusstörungen sein.“

Es sind keine „gewöhnlichen“ Herzkreislaufpatienten, die zuBrenda Gerull in die Sprechstunde der Medizinischen Klinik und Poliklinik I ans Deutsche Zentrum für Herzinsuffizienz (DZHI) kommen. Die Genetikerin leitet die Spezialsprechstunde für familiär bedingte Herzerkrankungen. Was so viel bedeutet wie: Ihre Patienten sind verhältnismäßig jung. Sie kommen häufig mit unspezifischen Symptomen nach einer langen Odyssee von Facharzt zu Facharzt. Und oft sehr spät, weil ihre Erkrankung lange nicht oder falsch diagnostiziert blieb.

Keine 30 - aber schleichend schwer krank 

30-Jährige mit schwachem Herzen. Die gar nicht ahnten, dass ihre Kurzatmigkeit und Luftnot, die rasche Erschöpfung und häufig Müdigkeit von einer seltenen, angeborenen Erkrankung herrühren. „Im Alltag“, sagt die Genetikerin, „merkt man es ja nicht unbedingt.“ So ist bei vielen Patienten der Krankheitsverlauf sehr schleichend, zieht sie über viele Jahre. „Und dann kommen sie in dramatischen Situationen, mit Herzrhythmusstörungen. Wir sehen sie häufig erst im Endstadium.“

Vor drei Jahren kam Gerull vom kanadischen Calgary nach Würzburg, ans DZHI. Die Aufgabe für die Ärztin: Hier eine Spezialambulanz für erbliche Herzerkrankungen einzurichten. Und der Auftrag für die Wissenschaftlerin: die Genetik der Herzschwäche weiter zu erforschen.

Beschäftigt sich mit genetischen Veränderungen und ihren Folgen fürs Herz: Professorin Gerull ist Spezialistin für die vielen seltenen, weil vererbten Formen der Herzerkrankungen.
Foto: Thomas Obermeier | Beschäftigt sich mit genetischen Veränderungen und ihren Folgen fürs Herz: Professorin Gerull ist Spezialistin für die vielen seltenen, weil vererbten Formen der Herzerkrankungen.

Man mag bei Patienten mit schwachem Herzen gemeinhin an Ältere denken, die mit 70 oder mehr Jahren einen oder mehrere Infarkte hinter sich haben. Wer sich mit Gerull unterhält, weiß: Die Herzinsuffizienz ist keine Frage des Alters, sie kann schon bei Kindern auftreten. Bei jüngeren Patienten entstehen Herzschwäche oder lebensbedrohliche Rhythmusstörungen meist, wenn infolge einer Genveränderung eine Herzmuskelerkrankung ausgelöst wird. Dann kann es zur Verdickung des Herzmuskels kommen, zur Erweiterung der Herzkammern mit Störungen der elektrischen Aktivität und verringerter Pumpleistung.

Wie kann es sein, dass ein Fußballspieler plötzlich auf dem Rasen zusammenbricht? Warum stirbt ein sportlicher, gut trainierter junger Erwachsener ohne Vorzeichen und äußerem Grund? Warum wacht ein scheinbar gesundes vierjähriges Mädchen am nächsten Morgen nicht mehr auf? Übergewicht, Bluthochdruck, Rauchen oder Diabetes sind als Ursachen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bekannt. Bei den Patienten in Gerulls Spezialsprechstunde ist  ist der Grund der Kardiomyopathien im Erbgut zu suchen: „Es gibt familiäre Formen, die statistisch betrachtet nur einmal bei 10.000 Menschen vorkommen können“, sagt die Professorin. „Andere sind relativ häufig und können bei einer von 500 Personen auftreten.“

Wenn das Gen mutiert ist: Wer erkrankt, wer erkrankt nicht?

Für die Ärztin beginnt dann die Erforschung der Familiengeschichte: Gab es vielleicht einen Großvater oder Onkel, der mit nicht mal 50 Jahren am plötzlichen Herztod starb? Hat der Vater vielleicht eine vergrößerte Herzkammer und leidet unter verringerter Pumpleistung? Gibt es ein Geschwisterchen mit angeborenem Herzfehler, leidet eine Tante unter starken Rhythmusstörungen? Häufig sind mehrere Familienmitglieder betroffen, sagt Gerull. Die Wahrscheinlichkeit, die genetische Veränderung weiterzuvererben, liegt häufig bei 50 Prozent. Nicht bei allen aber wirkt sich das defekte Gen, die Mutation im Erbgut, aus: Während einige Träger der betreffenden Erbanlage frei von Symptomen und unbeeinträchtigt ein zunächst unbeschwertes Leben führen, sind andere von Anfang an schwer beeinträchtigt. Warum erkrankt der eine früher, der andere später oder gar nicht?

Brenda Gerull will herausfinden, wie es zu den verschiedenen Verlaufsformen kommt und wie sich daraus neue Möglichkeiten für Prävention, Diagnose und Therapie entwickeln lassen. Weltweit gibt es nur sehr wenige Forscher, die sich mit den komplizierten genetischen und molekularen Grundlagen von Herzmuskelerkrankungen beschäftigen. Und wenige Spezialisten, die ihre Forschungserkenntnisse direkt in der Klinik anwenden und zum Patienten bringen können.

Am Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz (DZHI), das die Volkskrankheit Herzschwäche systematisch erforscht und behandelt, ist Brenda Gerull mit ihrer Forschungsprofessur „Kardiovaskuläre Genetik“ quasi die Frau für die seltenen, speziellen Fälle.

Wie erforscht man das menschliche Herz?  

Manchmal, sagt Gerull, kennt man für eine Mutation nur ein oder zwei Familien in der ganzen Welt. Die vererbten Erkrankungen sind ein noch weitgehend unverstandener Gegenstand in der Medizin“, sagt die Genetikerin. „Noch ist sehr wenig bekannt, was die Mutationen, die sich dann als solche Erkrankungen äußern, tatsächlich auf der Ebene von Molekülen, Zellen, Geweben und Organen auslösen.“ Und auch wie sich Umweltfaktoren oder Lebenserwartungen auf die genetische Veranlagung auswirken - prognostisch günstig oder eher ungünstig – ist weitgehen unbekannt. Deshalb verbringt Gerull viel Zeit nicht nur mit Patientengesprächen, mit der Beratung und Untersuchung von Familien – sondern mit Studien und Experimenten im Labor.

Wie erforscht man das menschliche Herz? Die Würzburger Wissenschaftler nutzen pluripotente Stammzellen, die sich zu Herzzellen entwickeln.
Foto: Thomas Obermeier | Wie erforscht man das menschliche Herz? Die Würzburger Wissenschaftler nutzen pluripotente Stammzellen, die sich zu Herzzellen entwickeln.

Das Herz ist ein schwer zu erforschendes Organ: „Man kommt ja beim Menschen nicht einfach ran“, sagt die Professorin lächelnd. Ihr Team nimmt „ersatzweise“ zum Beispiel Hautzellen von Patienten und „programmiert“ sie um, zurück zu pluripotenten Stammzellen. Die wiederrum bringen die Wissenschaftler dann dazu, sich in Herzmuskelzellen zu entwickeln. „Wir produzieren nicht wie Frankenstein ein neues Herz“, sagt die Wissenschaftlerin. Aber durch die entwickelten Herzmuskelzellen lassen sich Krankheitsmechanismen und krankhafte Veränderungen in der Zellkultur untersuchen.

Weil die genetischen Herzerkrankungen sehr komplex sind und viele Fachbereiche betreffen, hat Gerull mit Kollegen des Uniklinikums unter dem Dach des Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZESE) das Zentrum für Genetische Herz- und Gefäßerkrankungen (ZGH)gegründet. Unter ihrer Leitung kommen hier seit Ende 2018 die Kompetenzen mehrerer Abteilungen der Uniklinik und des Instituts für Humangenetik zusammen.

„Auch psychologische Unterstützung können wir im Bedarfsfall vermitteln“, sagt  Brenda Gerull. Das langfristige Ziel sei „dass die Patienten von ihrem Hausarzt und niedergelassenen Kardiologenweiterbetreut werden und wir beratend zur Seite stehen.“

"Mit einigen Mutationen kann man gut leben" - aber bitte nicht zu viel Sport

Sie selbst kann durch Gentests Angehörigen entweder die Sicherheit geben, kein Genträger zu sein. Oder eben die Veranlagung früh erkennen und helfend und beratend zur Seite stehen. Manche Betroffenen werden ihr Leben lang Medikamente nehmen müssen, sich vielleicht besser mit einem Defibrillator vor einem plötzlichen Herztod schützen müssen und im schlechten Fall irgendwann auf ein Spenderherz angewiesen sein. „Aber die Lebenserwartung ist nicht bei allem Patienten eingeschränkt“, sagt die Ärztin. „Mit einigen Mutationen kann man gut leben.“  Nötig sei dann nur  etwas Vorsicht: regelmäßig untersuchen lassen, aufpassen bei Infekten. Und besser kein intensiver Sport.

 
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