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WÜRZBURG
Wenn es Mainfranken nach Jamaika zieht
Seit vier Wochen ringen CDU, CSU, FDP und Grüne um eine neue Bundesregierung. Geht es nach den Protagonisten der Jamaika-Parteien in Mainfranken, sind Ergebnisse in Sicht.
dorothee_baer       -  Dorothee Bär (39) aus Ebelsbach (Lkr. Haßberge) ist seit 2002 CSU-Bundestagsabgeordnete. Der noch amtierenden schwarz-roten Regierung gehört sie als Staatssekretärin an. In der Unterfranken-CSU ist Bär stellvertretende Vorsitzende.CSU
Foto: Foto: | Dorothee Bär (39) aus Ebelsbach (Lkr. Haßberge) ist seit 2002 CSU-Bundestagsabgeordnete. Der noch amtierenden schwarz-roten Regierung gehört sie als Staatssekretärin an.
Michael Czygan
,  Benjamin Stahl
,  Andreas Kemper
 und  Folker Quack
 |  aktualisiert: 17.11.2017 03:05 Uhr

Zwar gibt es noch immer keine Regierung in Berlin. Die Bundestagsabgeordneten haben gleichwohl schon jede Menge zu tun. Nicht nur, wenn sie wie CSU-Staatssekretärin Dorothee Bär an vorderer Front in die Sondierungsgespräche eingebunden sind. Entsprechend schwierig war es, einen Termin für ein mainfränkisches Jamaika-Gespräch mit Bär, Manuela Rottmann (Grüne) und Karsten Klein (FDP) zu finden. Als alles in der Redaktion bereitstand, musste die Staatssekretärin doch noch absagen. Die Parteioberen hatten sie kurzfristig nach Berlin beordert. Also haben wir Bär per Telefon aus dem ICE zugeschaltet.

Die Sondierungen laufen schon seit über drei Wochen. Bei vielen Wählern macht sich Ungeduld breit. Warum dauert es so lange?

Dorothee Bär: Ich finde nicht, dass es so wahnsinnig lange dauert. Falls die Koalition kommt, soll sie schließlich vier Jahre halten. Der letzte schwarz-gelbe Koalitionsvertrag wurde schon vier Wochen nach der Wahl unterschrieben, und der war so vage formuliert, so wenig detailliert, dass es vier Jahre lang Kämpfe gab.

Manuela Rottmann: Sorgfältig zu verhandeln, finde ich richtig. Man soll sich auch nicht um Konflikte herumdrücken. Allerdings hätte ich mir schon gewünscht, dass wir aus der großen Zustimmung zu Jamaika gleich nach der Wahl mehr gemacht hätten. Mich irritiert die gegenwärtige Stagnation. Ich hoffe sehr, dass sich das jetzt ändert.

Karsten Klein: Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. Ich finde, dass der Zeitraum nicht zu lang ist, angesichts einer Konstellation, die es so auf Bundesebene noch nie gegeben hat. Es ist wichtig, jetzt am Anfang die großen Streitthemen zu diskutieren, bevor man später, wie wir das zwischen 2009 und 2013 erlebt haben, permanent über Fragen streitet, die längst bekannt sind. Wir werden noch genug Themen auf den Tisch bekommen, die heute noch gar nicht absehbar sind. Neben der Einigung in Sachfragen braucht eine Koalition aber auch ein gewisses Grundverständnis, wie man das Land voranbringen will. Ich möchte nicht von einer Vision sprechen, aber mir fehlt noch die zentrale Botschaft.

Fehlt es an Vertrauen zwischen den handelnden Personen? Grüne und CSU pflegen schon lange gegenseitige Abneigung. Aber auch die FDP hat die Union einst als „Gurkentruppe“ beschimpft.

Bär: Das erlebe ich bei meinen Themen Digitalisierung, Bildung und Forschung gar nicht. Wir Fachkollegen arbeiten eng und vertrauensvoll zusammen. Die Stimmung zwischen allen vier Parteien ist erstaunlich gut. Trotzdem kommt man bei den Themen teilweise von unterschiedlichen Planeten. Und das zusammenzubinden, ist eben nicht einfach.

Frau Rottman, Sie haben in Ihrer Zeit als Umweltdezernentin in Frankfurt unter CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth viele Erfahrungen mit dem vermeintlich lagerüberschreitenden Schwarz-Grün gemacht. War das einfach?

Rottmann: Frankfurt ist eine besondere Situation. So ein Großstadtmilieu prägt alle Parteien. Weil wir damals Pioniere waren, waren wir auch sehr vorsichtig miteinander. Wir haben viel dafür investiert, damit jeder mit seinen Zielen in der Koalition vorkommt und haben den anderen auch Erfolge gegönnt.

Ein Rezept für Berlin?

Rottmann: Absolut. Schwarz-Grün in Frankfurt hat etliche Jahre viel zustande gebracht, nach diesem Prinzip. Da war Platz für Ideen, da war Platz, auch mal um die Ecke zu denken. Die Union ist stärker im Handwerk verankert als die Grünen. Aber für eine Energiewende, da braucht man den Zugang zum Handwerk. Wir haben davon profitiert, dass wir unterschiedliche Milieus vertreten. Das ist auch das, was sich die Bevölkerung von so einer ungewöhnlichen Konstellation in Berlin erwartet. Wir müssen die Chancen sehen. Dann macht das Miteinander Spaß, dann kann das richtig gut werden fürs Land.

Manuela Rottmann (45) aus Hammelburg (Lkr. Bad Kissingen) ist seit September neu im Bundestag. Von 2006 bis 2012 war sie Umwelt- und Gesundheitsdezernentin in Frankfurt/Main. Rottmann ist Co-Vorsitzende der Grünen in Unterfranken.
Foto: Theresa Müller | Manuela Rottmann (45) aus Hammelburg (Lkr. Bad Kissingen) ist seit September neu im Bundestag. Von 2006 bis 2012 war sie Umwelt- und Gesundheitsdezernentin in Frankfurt/Main.

Wo bieten sich denn Chancen für Jamaika?

Rottmann: An den Infoständen im Wahlkampf haben viele kluge, gut informierte Bürger Änderungswünsche an die Politik formuliert. Etwa beim Thema Rente. Alte wie Junge haben gesagt, dass sie fürchten, ihr Leben lang zu schaffen, ohne später in der Rente über die Grundsicherung zu kommen. Vermutlich haben die Leute an den Ständen der anderen Parteien Ähnliches erzählt.

Bär: Das kann ich nur bestätigen. Die auskömmliche Rente war ein Mega-Thema auch bei mir an den Infoständen. Das hat die Leute fast noch mehr beschäftigt als die Migration.

Rottmann: Beim Thema Flucht und Migration gibt es das große Bedürfnis, dass die Zuwanderung kontrolliert abläuft. Dazu gehört zum Beispiel, das Bundesamt für Migration in Nürnberg vernünftig zu strukturieren. Und es gibt auch die Überzeugung, dass es nicht gerecht ist, wenn diejenigen, die sich anstrengen, sich einen Job suchen und die Sprache lernen, keine Chance haben zu bleiben. Das sehen nicht nur die Grünen, sondern auch die Wirtschaft und normale Leute auf der Straße so. Die Leute sitzen gar nicht so in Lagern, wie wir Politiker das zum Teil tun.

Klein: Ein großes Thema, das an uns immer wieder herangetragen wurde, ist die Balance zwischen Bürger und Staat. Da braucht es eine Entlastung. Beim Klimaschutz sehe ich auch viele Gemeinsamkeiten. Ich finde den Weg, den man in den 80er Jahren beim Thema Umweltschutz gegangen ist, mit einer guten Kombination aus gesellschaftlicher Diskussion, industrieller Innovation und staatlichen Rahmenbedingungen, sehr erfolgversprechend.

Frau Bär, welche Chancen sehen Sie?

Bär: Bei der Digitalisierung sind wir sehr weit. Wir können diese Koalition, sofern es sie geben wird, gut als „Zukunftskoalition“ betrachten – mit Brückenbaufunktion zwischen den Milieus, zwischen Stadt und Land, zwischen Jungen und Älteren. Auch beim Thema „Bewahrung der Schöpfung“ sind die Grünen gar nicht weit von uns entfernt. Hier werden wir zusammenkommen. Da bin ich überhaupt nicht pessimistisch.

Welche Rolle spielt die Diskussion um Horst Seehofer in der CSU?

Bär: Wir führen jetzt keine Personaldebatte, Sachthemen haben absoluten Vorrang.

Derzeit hat man noch den Eindruck, Grüne und FDP sind bereit, Maximalforderungen zu kippen. Die Union bewegt sich hingegen nur schleppend. Entsprechend groß ist die Enttäuschung.

Bär: Es wird versucht, diesen Eindruck zu erwecken. Diese Diskussion findet vor allem in den Medien statt. In den Gesprächen, bei denen ich dabei bin, spüre ich das nicht, da wird mit großer Ernsthaftigkeit gearbeitet. Es ist wichtig, dass in der letzten Verhandlungsnacht noch einmal alle Themen aufs Tapet kommen, damit sich niemand über den Tisch gezogen fühlt. Ich bin da bei Frau Rottmann. Die Koalition kann nur gelingen, wenn nicht jede Seite meint, irgendwelche Trophäen oder Skalps heimbringen zu müssen.

Rottmann: Mein Maßstab ist: Kann ich die Ergebnisse, auch die Kompromisse, den Wählern im Wahlkreis erklären? Kann ich den Leuten, die sich seit über zwei Jahren anstrengen, Geflüchtete zu integrieren, denen man oft Steine vor die Füße wirft, kann ich denen wieder vor die Augen treten. Aber auch den Leuten, die sagen, sie haben Angst, dass wir uns überfordern, will ich die Politik erklären können. Es geht darum, gute Lösungen für das ganze Land anzubieten. Die Pariser Klimaschutz-Ziele sind kein grünes Eigeninteresse. Ohne diese gehen wir alle über die Wupper. Nach dem Einzug der AfD in den Bundestag kämpfen wir jetzt auch darum, dass die Menschen weiter Vertrauen haben in dieses parlamentarische System.

Es steht mehr auf dem Spiel als das eigene parteipolitische Profil. Es geht um die Stabilität Deutschlands.

Der Druck scheint wahnsinnig groß. Der schlimmste Fall wären Neuwahlen, oder?

Karsten Klein (39) aus Aschaffenburg ist stellvertretender Vorsitzender der Bayern-FDP und Bezirkschef der Liberalen in Unterfranken. Von 2008 bis 2013 war Finanzexperte Klein Landtagsabgeordneter, nun ist er Mitglied des Bundestags.
Foto: Theresa Müller | Karsten Klein (39) aus Aschaffenburg ist stellvertretender Vorsitzender der Bayern-FDP und Bezirkschef der Liberalen in Unterfranken.

Rottmann: Der Druck lastet auf allen gleich. Die Grunderwartung ist: Das müsst Ihr hinkriegen. Wir erwarten von Kriegsparteien überall auf der Welt, dass sie sich an einen Tisch setzen und Regierungen der nationalen Einheit bilden. Nun haben wir alle - Gott sei Dank - noch nie eine körperliche Auseinandersetzung miteinander ausgetragen. Da müssen wir es doch schaffen. Trotzdem gibt es Grenzen. Für uns Grüne hat es keinen Sinn, in eine Koalition zu gehen, die eine Klima-Politik macht wie die Große Koalition.

Bär: Mit Neuwahlen zu kokettieren, finde ich schwierig. Das wäre kein gutes Signal. Ich glaube auch nicht, dass eine demokratische Partei davon einen Vorteil hätte. Nur eine Partei im Bundestag würde davon profitieren. Das Vertrauen in die Demokratie wäre noch mehr erschüttert.

Klein: Neuwahlen wären eine schlechte Variante, aber nicht die schlechteste. Wir haben eine staatspolitische Aufgabe, anhand dieses Wahlergebnisses eine Regierung zu bilden. Aber die hat auch die SPD, die sich da bislang aus der Verantwortung geschlichen hat. Wir haben auch die Aufgabe, unsere Inhalte umzusetzen. Wenn die Unterschiede zwischen den Parteien nicht mehr sichtbar sind, ist das schlecht für die Demokratie. Das haben wir in den letzten Jahren ja erlebt, wir Liberale besonders schmerzhaft. Wir dürfen uns nicht zu Tode umarmen.

Welche Rolle spielt Angela Merkel bei der Sondierung? Man hört Klagen, sie führe zu wenig.

Bär: Die Bundeskanzlerin will diese Koalition. Nach außen wünscht man sich vielleicht mehr Führung, nach innen arbeitet sie schon sehr klar und strukturiert. Manche Verhandlungen würden noch länger dauern, wenn die Kanzlerin nicht eingreifen würde.

Klein: Wir wünschen uns schon, dass die Kanzlerin auch mal Positionen bezieht. Ich glaube, dass eine Koalition aus vier Partnern Führung braucht, nicht nur Moderation. Es reicht nicht, Tagesordnungen und Zeitpläne aufzusetzen. Sie müsste auch mal sagen, wo sie eigentlich hin will mit diesem Land. Dafür wäre es höchste Zeit.

Rottmann: Diese Koalition braucht viel Erklärung und Offenheit. Wir müssen die Bürger mitnehmen. Da passt Zurückhaltung a la Merkel nicht so ganz. Jamaika in Schleswig-Holstein funktioniert auch deshalb, weil man dort viel mit den Leuten redet.

Haben Sie Herzensanliegen, die Sie in dieser Koalition gerne verwirklicht sähen?

Bär: Für mich ist entscheidend, dass wir beim Thema Digitalisierung einig sind. Das ist das wichtigste Projekt der kommenden Legislaturperiode. Da geht es darum, die Technik voranzubringen. Noch wichtiger ist es aber, alle mitzunehmen. Besonders die, die momentan noch keine persönlichen Vorteile erkennen können. Wir wollen ihnen die Ängste nehmen und die Chancen in den Fokus stellen. Digitalisierung bedeutet einen Gewinn an Lebensqualität. Durch die Digitalisierung besteht die Möglichkeit, die Flucht in die Städte aufzuhalten, wenn nicht sogar umzudrehen. „Chancen - Aufbruch ins digitale Zeitalter“, das könnte so eine Überschrift für eine neue Regierung sein.

Rottmann: Ich habe große Hoffnung, dass wir beim Thema Gesundheitsversorgung und Pflege im ländlichen Raum eine Wende hinbekommen. Wir müssen die Lage in den Kliniken stabilisieren. Und auch eine Perspektive für die Versorgung mit niedergelassenen Ärzten schaffen. Das halte ich für existenziell. Das Zweite ist: Wir reden so viel über den Elektromotor, dabei muss es um eine Verkehrswende gehen. Wir müssen auch auf dem Land eine Alternative zum eigenen Auto bieten. Das gilt für Alte, die nicht mehr selbst fahren wollen, aber auch für Azubis, die eigentlich eine Lehrstelle hätten, nur ohne Auto nicht hinkommen.

Klein: Jamaika muss ein Projekt für alle Bürger sein. Als Finanzpolitiker bin ich dafür, den Leuten auch mal was zurückzugeben, die dieses Land am Laufen halten. Das sind vor allem die Leistungsträger, die Mitte der Gesellschaft, die wir in den letzten Jahren immer mehr belastet haben. Die Abschaffung des Solis muss Teil des Sondierungsergebnisses sein.

 
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  • Einwohner
    Man kann nur hoffen, dass eine solche Regierung niemals zu Stande kommt!
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  • Arcus
    Man kann nur hoffen, dass Frau Rottmann in einer zukünftigen Regierung eine größere
    Rolle spielt. Auf Frau Bär kann ich gerne verzichten.
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