
Einen Dirigenten gibt es nicht. Jeder steht, der Reihenfolge nach, auf, geht in die Mitte, sagt eine Seitenzahl - und los geht's. „Star in the East“, „Amsterdam“, „Africa“ oder „Bridgewater“ heißen die Lieder aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die an jedem Mittwoch um 12 Uhr im Hörsaal III der Residenz erklingen. Zehn Studenten und Dozenten gehören der Singgruppe, hier „Class“ genannt, derzeit an. Was hier das Besondere ist: Gesungen wird nicht nach konventionellen Noten.
Die Gruppe praktiziert „American Shape Note Singing“. Dass es die „Class“ gibt, ist Juniper Hill zu verdanken. Die in Seattle geborene Musikethnologin, die seit dem Sommersemester 2018 in Würzburg lebt, lehrt und forscht, kam vor 20 Jahren in Amerika mit „Shape Note Singing“ in Berührung. Die „Formnoten“, wie man den englischen Ausdruck übersetzen könnte, heißen so, weil sie die Stammtöne der Dur-Tonleiter - also Do, Re, Mi, Fa, So, La, Ti - mit geometrischen Formen als Notenköpfe darstellen.
Bei der Art von „Shape Note Singing“, die Juniper Hill anbietet, wird „Fa“ als Dreieck, „So“ als Kreis, „Mi“ als Raute und „La“ als Viereck dargestellte. Mehr als diese vier Silben und Formen gibt es nicht. Das mag verwundern, weiß man doch, auch wenn man sich nicht allzu intensiv mit Musik beschäftigt hat, dass eine Oktav aus acht Tonstufen besteht. Doch bei „Shape Note Singing“ kommen die vier geometrischen Formen entlang der Tonleiter mit Ausnahme von „Mi“ zweimal vor: Das Dreieck, das für „Fa“ steht, bildet die Noten „C“ und „F“, der Kreis, der für „So“ steht, findet sich anstelle der konventionellen D- und G-Noten.

Das klingt kompliziert. Letztlich sollen die Formen jedoch helfen, vom Blatt zu singen. Und zwar gerade auch dann, wenn man völlig ungeübt ist. „Shape Note Singing“ blickt laut Hill auf eine lange Tradition zurück. Seine Wurzeln reichen in die kirchlichen Gesangsschulorganisationen, die im 18. Jahrhundert in Amerika entstanden sind. Die Lieder, die in der „Mittwochs-Class“ gesungen werden, stammen überwiegend aus dem Songbuch „The Sacred Harp“ von Benjamin Franklin Whites und Elisha James King, das 1844 erstmals veröffentlicht wurde. Wer in die Mitte tritt, um ein Lied lang „Hauptdirigent“ zu sein, nennt eine Seitenzahl aus „The Sacred Harp“.
„159“, sagt eine Studentin, die sich soeben in Position gestellt hat. „Wondrous Love“ nennt sich das auf dieser Seite abgedruckte, geistliche Strophenlied von James Christopher, das 1840 entstand. Zunächst werden die Noten des Lieds einmal auf „Fa“, „So“, „Mi“ und „La“ durchgesungen. Danach schließt sich ein A capella-Durchgang mit Text an.
"Shape Note Singing" ist demokratisches Singen. Statt Proben gibt es die Zusammenkunft.
„Shape Note Singing“ versteht sich als Gemeinschaftsbewegung. Alle Menschen, die Lust auf Singen haben, sollen zusammenkommen können - ohne jeden Unterschied. Akademisch ausgebildete Musiker singen also mit blutigen Laien. Christen, die den Liedern auch inhaltlich etwas abgewinnen können, kommen beim „Shape Note Singing“ mit Gläubigen jeder Couleur, mit Atheisten und Agnostikern zusammen. Dass sich auch viele Nichtgläubige auf die christlichen Volkslieder einlassen, mag erstaunen. Doch viele fühlen sich von den dunklen, getragenen Melodien in Bann gezogen. „Es ist wie ein Baden im Klang“, beschreibt Studentin Sarah Funke die Stimmung, die von den eingängigen Liedern ausgehen.

„Shape Note Singing ist eine offene, demokratische und partizipative Form des gemeinschaftlichen Singens“, sagt Juniper Hill. Jeder ist innerhalb der Gruppe gleich viel wert. Falsche Töne, ein rhythmischer Patzer oder „unsaubere“ Einsätze sind kein Problem. Anders als in herkömmlichen Chören gibt es keinen Dirigenten, der dann ruft: „Stopp! Noch mal von vorn!“ Die Zusammenkünfte werden auch nicht als „Probe“ verstanden. Es gibt kein Einstudieren, kein Feilen am Lied. Denn es geht ja um nichts - außer um die Freude des singenden Zusammenseins. „Nicht das Produkt steht im Mittelpunkt, sondern das Erlebnis“, meint Musikpädagogik-Student Thomas Häglsperger.
Ein Erlebnis ist es allemal, am „Shape Note Singing“ teilzunehmen. „Wir sind ziemlich laut“, warnt Juniper Hill Neulinge schmunzelnd. Wer in die „Class“ hineinschnuppert, ist zunächst tatsächlich erstaunt, wie viel Power in den zehn Menschen steckt, die hier miteinander singen. „Shape Note Singing“, so die Professorin, versteht sich nicht zuletzt als eine Methode des „Empowerments“. Weil man nichts falsch machen kann, weil man nicht bewertet wird und nichts unter Beweis stellen muss, kann keine Angst aufkommen. Selbstvertrauen wächst.
Jeder ist Dirigent - und die Arme gehen rhythmisch nach oben und unten
Gewöhnungsbedürftig ist für Anfänger, dass nicht nur der jeweilige Sänger in der Mitte dirigiert. Letztlich ist jeder Singende zu jeder Zeit auch Mit-Dirigent. Oder anders ausgedrückt: Jeder hilft mir, dass alle im Takt bleiben. Das ist unschwer daran zu erkennen, dass die Sänger, während sie singen, einen ausgestreckten Arm rhythmisch nach oben und nach unten bewegen. Das kann der linke oder der rechte Arm sein. Wer das gar nicht mag oder zu verwirrend findet, kann den Arm auch ruhen lasen. Nichts ist rigide. Nichts starr. Nichts ein unbedingtes Muss.
- Hier gibt's Hörbeispiele: So kann es klingen
Ungewöhnlich ist letztlich vieles. Nicht nur die Notenform. Nicht nur die Probenfreiheit. Sondern auch die Stimmen. Jedes Lied wird vierstimmig gesungen. Deshalb sitzt die Gruppe auch immer im Quadrat. Neben den bekannten Stimmen Bass, Tenor und Alt gibt es beim „Shape Note Singing“ eine vierte, hohe Stimme, die sich „Treble“ nennt. Die kann sowohl von Frauen als auch von Männern gesungen werden. „Zehn Sänger sind schon mal ein sehr guter Anfang für Würzburg“, meint Juniper Hill, die vor zehn Jahren in Irland mit einem ähnlich kleinen „Shape Note Singing“-Kurs begonnen hat. Dort sprang der Funke sofort über. Inzwischen gibt es eine lebendige „Shape Note Singing“-Szene. Kaum ein Landstrich, in dem nicht gemeinsam nach Kreisen, Dreiecken und Rauten gesungen wird.

In Deutschland gibt es „Shape Note Singing“ auch seit etwa zehn Jahren. Regelmäßig treffen sich Sänger in Bremen, Frankfurt, Berlin, Köln und München. Jährlich findet eine „Convention“ statt: Eine Zusammenkunft von unterschiedlichen Singgruppen. Diese Versammlungen dauern einen ganzen Tag. Ende Mai werden die Würzburger Sänger nach Bremen zur Convention fahren.
Nächste Runde ab 23. April - immer mittwochs für alle
Hoffentlich dann mit weiteren Sangesfrohen, die nicht aus der Uni und aus dem akademischen Umfeld stammen. „Community Members“ nennt Juniper Hill die „ganz normalen“ Bürgerinnen und Bürger, die ab 23. April, wenn „Shape Note Singing“ in die zweite Runde geht, zu der Singgruppe dazustoßen können und sollen.
Die Grenzen aufzulösen zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern, ist der Musikethnologin prinzipiell ein großes Anliegen. „Shape Note Singing“ sieht die Professorin als beste Möglichkeit an, wenn es darum geht, gesellschaftliche Schranken und Standesdünkel zu sprengen. „Es gibt bei uns nicht einmal eine Trennung zwischen Sängern und Publikum.“ Klassische Auftritte sind nicht vorgesehen. Singt die Gruppe außerhalb des Hörsaals, zum Beispiel bei einer Geburtstags-oder Weihnachtsfeier, ist jeder, der zuhört, eingeladen, in das Viereck zu treten und mitzumachen.