Chiara Lang klingelt jede Woche bei Liliane Eisenmann. Als Lilian Eisenmann so alt war, wie Chiara Lang heute ist, lag Würzburg in Trümmern. „Auch wir wurden am 16. März ausgebombt“, erzählt die 88-Jährige ihrer 17 Jahre alten Nachbarschaftshelferin. Überhaupt war zu jener Zeit alles ganz anders gewesen. Von Vielem, was für junge Frauen heute selbstverständlich ist, konnte man nur träumen, sagt die Seniorin: „Einen Beruf zum Beispiel habe ich nie erlernen können.“ Dabei wäre Lilian Eisenmann so gern Kindergärtnerin geworden.
Chiara Lang, Schülerin des Würzburger Riemenschneider-Gymnasiums, hört gebannt zu. Vor einem halben Jahr kam sie über die ökumenische Nachbarschaftshilfe „Eine Stunde Zeit füreinander“ des Matthias-Ehrenfried-Hauses in Kontakt mit Lilian Eisenmann. Seither besucht sie die Seniorin an jedem Montagnachmittag. Sie unterstützt sie vor allem beim Einkaufen und Spazierengehen. Mindestens ebenso wichtig wie die praktische Hilfe ist für die beiden der Austausch. Chiara Lang erfährt von Lilian Eisenmann, was früher, als die Seniorin im Teenageralter war, recht ähnlich zu heute und was komplett anders war.
Leben neu organsiert Lilian Eisenmanns Leben änderte sich schlagartig nach mehreren Stürzen im Oktober 2015, durch die sie sich einen doppelten Beckenbruch zuzog. Sie, die immer sehr aktiv war und sich 30 Jahre lang als Ehrenamtliche im Matthias-Ehrenfried-Haus engagiert hatte, ist seitdem auf einen Rollator angewiesen.
Die Wohnung kann sie nicht mehr alleine verlassen. Überhaupt musste sie ihr Leben neu organisieren, erzählt die agile Seniorin: „Morgens kommt die Sozialstation, ich erhalte Essen auf Rädern, außerdem habe ich eine Haushaltshilfe.“ Ja, und dann ist da Chiara Lang, die es ihr einmal in der Woche ermöglicht, aus dem Haus zu kommen.
Für Lilian Eisenmann wäre es schrecklich, würde sie in einem Pflegeheim betreut werden müssen. „Ich weiß von Bekannten, die dort sehr einsam sind“, sagt sie. Das Matthias-Ehrenfried-Haus, das seit 2008 als Mehrgenerationenhaus anerkannt ist, hilft Senioren wie Lilian Eisenmann, ihren Alltag so zu organisieren, dass sie möglichst lange in ihren eigenen vier Wänden bleiben können.
Neben der ökumenischen Nachbarschaftshilfe gibt es eine Beratung zu allen Fragen, die im Alter auftauchen, Kurse für pflegende Angehörige sowie Vortragsveranstaltungen – zum Beispiel zu den Themen Patienten- und Betreuungsverfügung.
Über die Schule zum Helferjob gekommen
Über P-Seminare an Gymnasien werden Würzburger Jugendliche für die Nachbarschaftshilfe und andere Seniorenprojekte im Mehrgenerationenhaus gewonnen. Chiara Lang entschied sich für ein Engagement in der Nachbarschaftshilfe, weil sie es sehr interessant findet, älteren Menschen zu begegnen. Was Lilian Eisenmann in ihrer Jugend alles erleben musste, ist für Chiara Lang drastisch. Nicht nur, dass es ihr versagt war, sich über einen Beruf selbst zu verwirklichen. Sie musste auch den Tod des 20 Jahre alten Bruders 1944 in Russland verkraften. Wenn sie sich in diese Situation hineinzuversetzen versuche, bekomme sie eine Gänsehaut, sagt Lang: „Denn ich habe auch zwei ältere Brüder.“
Gern reden die beiden auch darüber, wie es früher in der Schule war. Drakonische Strafen gehörten in den 1940er Jahren zum Schulalltag dazu. „Ich war eine Linke gewesen“, erzählt Lilian Eisenmann, womit sie allerdings nicht auf eine etwaige politische Einstellung als Teenager anspielt. Sie war eine Linkshänderin, was damals, als sie zur Schule ging nicht akzeptiert wurde: „Man unterstellte uns einen bösen Willen.“ Immer, wenn die Lehrerin sie dabei erwischte, wie sie mit der linken Hand schrieb, wurde ihr eins mit dem Rohrstock übergezogen.
Lilian Eisenmann bringt ihre Nachbarschaftshelferin auch auf neue Ideen, was man kreativ tun kann. Sie selbst fertigt mit Leidenschaft bunte Rosen aus Papierservietten an. Vor allem in der Karnevalszeit sind ihre Kreationen gefragt. Chiara Lang findet es ebenfalls gut, mit den Händen tätig zu sein und etwas Kreatives zu machen: „In der Grundschule habe ich Handarbeit gern gemocht.“ Mit Freude lernt die Jugendliche bei ihrem heutigen Besuch, Papierrosen zu kreieren.
Senioren von dem Projekt überzeugen
Etwa ein Dutzend Ehrenamtlicher sind laut Melissa Löser, Projektreferentin für das Würzburger Mehrgenerationenhaus, derzeit in der ökumenischen Nachbarschaftshilfe aktiv. Manche Freiwilligen besuchen gleich mehrere Senioren zu Hause oder im Pflegeheim. Insgesamt 20 ältere Menschen nehmen den kostenlosen Dienst derzeit in Anspruch.
Ganz leicht ist es nicht, Senioren für das Projekt zu gewinnen, sagt Löser. Obwohl die älteren Menschen dadurch die Möglichkeit erhalten, Dinge zu tun, die ihnen aufgrund ihrer körperlichen Gebrechen sonst versagt wären. Doch gerade, dass der Dienst kostenlos ist, schreckt Senioren nicht selten ab. Sie sind es nicht gewohnt, eine Leistung ohne Gegenleistung zu erhalten, erklärt Melissa Löser. Lilian Eisenmann hat damit kein Problem, war sie doch selbst drei Jahrzehnte lang als Freiwillige im Einsatz.