Wer hierher ins Behandlungszimmer kommt, legt zunächst seinen Finger auf ein kleines, blaues Gerät auf dem Empfangstresen. „Das identifiziert den Gefangenen“, sagt Bernhard Rösch, der den Medizinischen Dienst der JVA Würzburg leitet. Das Pflegeteam weiß nun, welchen Drogenersatzstoff er in welcher Dosierung erhält. Dass suchtkranke Gefangene in Würzburg substituiert werden, ist neu. „Wir begannen damit offiziell am 4. Oktober 2017“, erläutert Rösch.
24 Männer und Frauen sind laut einer Pressemitteilung aktuell im Substitutionsprogramm. Viele wurden bereits in Freiheit behandelt. „Manche nehmen wir aber auch neu auf“, so Rösch. Zum Beispiel, weil ein Inhaftierter nur mit Hilfe einer Drogenersatztherapie hinter Gittern einen Schulabschluss machen oder eine Ausbildung beginnen kann.
Die 24 Gefangenen bekommen ihre tägliche Dosis zu festgelegten Uhrzeiten vom Pflegeteam der JVA. „Einmal im Monat biete ich außerdem eine Substitutionssprechstunde an“, erläutert Rösch. In dieser Sprechstunde erörtert der Mediziner mit den Gefangenen, welche Ziele sie mit Blick auf ihre Drogensucht verfolgen. Viele wünschen sich, langfristig mit Methadon behandelt zu werden. Allerdings möchten sie mit illegalen Drogen nichts mehr zu tun haben.
Irene T. (Name geändert) gehört zu den wenigen Gefangenen, die den Anstaltsarzt bisher baten, das Substitutionsmittel auszuschleichen. „Meine Tochter hasst es, dass ich das nehme“, erzählt sie in der Substitutionssprechstunde. Die Jugendliche möchte, dass ihre Mutter endlich ohne „Gift“ lebt. Die Inhaftierung sieht Irene T. als Chance, der Tochter diesen Wunsch zu erfüllen. In kleinen Schritten reduzierte Bernhard Rösch die tägliche Methadondosis: „Wobei die Gefangene nie wusste, wann die nächste Herabdosierung erfolgte.“ Am Ende wunderte sich Irene T., dass sie den Unterschied kaum spürte. Einzig mit Schlafstörungen hatte sie ein wenig zu kämpfen.
„Diese Frau allerdings stellt eine Ausnahme dar“, sagt Florian Oertel, Pflegedienstleiter in der JVA. Die meisten Gefangenen können sich ein Leben ohne Drogen oder Drogenersatzstoff nicht vorstellen. Schaut man sich ihre Lebensgeschichte an, wird schnell deutlich, warum das so ist. Oertel verweist auf Untersuchungen, nach denen 70 Prozent aller drogenabhängigen Frauen, die in Haft geraten, in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erlitten haben.
Vor allem traumatisierten Frauen eröffnet die Drogenersatztherapie Chancen auf ein besseres Leben. Prostituieren sich doch viele, um ihre Sucht zu finanzieren. Aber auch Männer profitieren davon, dass sich die Gefängnisse in Bayern für die Substitution geöffnet haben. Einigen gelingt es dadurch, wieder einer Arbeit nachzugehen. Andere schaffen es, straffrei zu leben - ohne Beschaffungskriminalität und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Die Erfahrungen des Medizinischen Dienstes der JVA Würzburg ein Jahr nach Einführung der Drogenersatztherapie sind überwiegend positiv. „Substitution funktioniert in einer Haftanstalt letztlich sogar besser als draußen“, meint Oertel. Haben doch viele Drogenabhängige in Freiheit das Problem, dass sie wenig mit sich anzufangen wissen. Einem Job gehen sie nicht nach. Sinnstiftende Hobbys haben sie nicht. Auch fehlen oft verlässliche Bezugspersonen. „Bei uns ist der Tag strukturiert“, so Oertel. Gefangene müssen zu bestimmten Zeiten aufstehen, viele gehen einer Arbeit nach, abends sind sie auf der Zelle.
Drogenabhängigkeit, betonen Bernhard Rösch und Florian Oertel, ist eine Erkrankung. Das unterstreichen die beiden deshalb immer wieder, weil es keineswegs überall auf positive Resonanz stößt, dass in der JVA Würzburg nun substituiert wird. „Was, ihr verteilt Drogen?“, bekommen die beiden öfter mal zu hören. Dann erklären sie: „Nein, das tun wir nicht.“ Sie geben ein Medikament aus. Und zwar eines, das Menschen hilft, die sich ihre Erkrankung ebenso wenig ausgesucht haben wie ein anderer seinen Diabetes oder den Bluthochdruck.
Auch die „Aktionstage Gefängnis“ vom 21. bis 30. September nutzen die beiden im Verbund mit der Drogenberatungsstelle Würzburg, um darüber aufzuklären, dass es wichtig ist, suchtkranken Gefangenen zu helfen. Das Problem ist gravierend, erklärt Holger Faust, der die Würzburger Drogenberatungsstelle leitet: „Man geht davon aus, dass bei bis zu 50 Prozent der Inhaftierten eine Suchtproblematik vorliegt.“ Seine eigene Einrichtung konnte im vergangenen Jahr über 300 Gefangene aus der JVA Würzburg beraten und begleiten. „Dabei kümmern wir uns nicht ausschließlich um Drogenabhängige, sondern um alle, die mit Sucht zu tun haben“, so Faust.
Unter denjenigen, die 2017 begleitet wurden, war zum Beispiel Sascha W. Der 24-Jährige wollte unbedingt eine Drogentherapie machen. Mit diesem Wunsch wandte er sich an die Mitarbeiter der Drogenberatungsstelle. Die trafen sich mehrmals mit Sascha W. zu Beratungsgesprächen. Ziel war es, gemeinsam über die nächsten Schritte zu entscheiden. „So ging es zum Beispiel um die Frage, was der Gefangene denn dafür tun müsste, um mit seinem Leben nüchtern klarzukommen“, erläutert Faust.
Sascha W. hatte mit 15 Jahren zum ersten Mal Cannabis konsumiert, später nahm er härtere Drogen – unter anderem Crystal. Seit er volljährig ist, war er keinen einzigen Tag mehr nüchtern. Mit Hilfe der Drogenberatungsstelle gelang es ihm, einen Therapieplatz zu bekommen. Faust: „Nach einem halben Jahr Zusammenarbeit stimmte das Gericht zu, dass Sascha seine Gesamtstrafe von zweieinhalb Jahren nicht bis zum Ende absitzen muss, sondern vorzeitig eine Therapie beginnen kann.“