Dass aus 80 handschriftlichen Seiten, auf denen Abdulmesih Yüksel die wichtigsten Geschehnisse seines Lebens festgehalten hat, einmal ein Roman werden würde, ahnten anfangs weder der syrisch-orthodoxe Christ und Aramäer, der 1966 als Gastarbeiter nach Ochsenfurt gekommen war, noch der Autor des Buches, Markus Grimm. Für die Geschichte hinter "Abdulmesih und der liebe Gott. Eine wahre Geschichte von Fremde und Heimat" (Echter Verlag Würzburg, 2019) haben wir den Buchautor und seinen Protagonisten zum Gespräch gebeten - über Identität, Integration und die Bedeutung von Sprache.
Frage: Wie sind Sie beide für das Buch zusammengekommen?
Markus Grimm: Herrn Yüksels Sohn Davit und dessen Frau wollten ihm zum 80. Geburtstag etwas schenken, was von ihm selbst stammt – die Geschichte seines Lebens.
Abdulmesih Yüksel: Am 17. April 2016 hatte ich eine Herzoperation, ich war halbtot. Sieben Tage lag ich im Koma, ich hatte keine Hoffnung, nochmal auf die Beine zu kommen. Aber die Medizin in Deutschland ist perfekt; nach einer Kur war ich viele Wochen später wieder daheim. Dann kam mein 80. Geburtstag; mein Sohn Davit brachte mir ein Heft und einen Bleistift und sagte: „Du musst Deine Lebensgeschichte aufschreiben.“ Ich habe angefangen - und drei Monate lang geschrieben.
Grimm: Aus 80 handschriftlichen Seiten von Herrn Yüksel hab‘ ich dann ein Lebensbild gemacht.
War sofort klar, dass daraus ein Buch wird?
Grimm: Die Ursprungsidee war, eine Lebensgeschichte festzuhalten. Erst mit der Zeit wurde klar: Man müsste eine große Geschichte, einen Roman, daraus machen. Doch in welcher Form – nur für die Familie? Dann hätte man es auch selbst verlegen können. Weil es aber so eine schöne, und durch das Thema Integration aktuelle Geschichte ist, dachte ich: Die müsste man in die Öffentlichkeit tragen. Beim Echter Verlag in Würzburg habe ich mit der Idee offene Türen eingerannt.
Was hat Sie an der Geschichte gereizt?
Grimm: Ein Steckenpferd von mir sind lokale Geschichten. Was mich außerdem immer interessiert, sind Menschen. Geschichte gibt’s nicht als Abstraktum, das sind immer Menschen, die etwas tun, die versuchen, scheitern, wieder aufstehen. Dass das Buch auch noch große Themen wie Flucht und Integration, Heimat und Fremde hat, verleiht ihm eine besondere Tiefe und Buntheit.
Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Yüksel: Als Herr Grimm zu mir nach Hause kam und Fragen stellen wollte, hab‘ ich gesagt: Sie brauchen mich nichts zu fragen, ich habe schon alle Antworten aufgeschrieben.
Grimm: Ein paar Bücher für die Hintergrundrecherche zu Orten, Festen und Riten der Geschichte hatte er auch noch parat (lacht). Es ist mir erstaunlicherweise leicht gefallen, in die Geschichte einzutauchen, obwohl Herr Yüksel mir völlig unbekannt war, und die Geschichte vor einem völlig anderen kulturellen und religiösen Hintergrund spielt. Wir Menschen haben letzten Endes alle dieselben Hoffnungen, Wünsche und Schwierigkeiten.
Was im Buch entspricht der Realität, was haben Sie dazu erfunden?
Grimm: Die Dialoge im Buch sind erfunden, die dazugehörigen Situationen nicht. Ich habe versucht, zu den Daten und Vorgängen, die mir vorlagen, Menschen und dazu die Dialoge zu finden. Die Schwierigkeit bestand darin, dass es nicht falsch werden durfte, weil es sich ja immer an der Wirklichkeit messen lassen muss. Die Menschen im Buch mussten für die, die sie tatsächlich kennen, erkennbar sein, aber auch nicht zu sehr. Ich wollte nicht etwas in die Geschichte reinlegen, was nicht drin ist – gleichzeitig war ich als Autor gezwungen, das Ganze zum Leben zu erwecken.
Was ist der Kern des Buches?
Yüksel: Markus Grimm hat die Geschichte einer Integration geschrieben. Das Wort Integration ist leicht gesagt, aber schwer getan. Es ist ein Stück Assimilation dabei – ohne kann man sich nicht integrieren. Man muss auf die eigene Kultur verzichten, auf eigene Ansichten, zumindest auf einen Teil davon.
Haben Sie ein Beispiel?
Yüksel: Wir haben damals, in den ersten Jahren nach unserer Ankunft in Deutschland, vieles geschluckt. Einmal hatten wir zum Beispiel einen Autounfall. Obwohl der andere im Unrecht war, haben wir gesagt: Du hast Recht. Wir hatten Angst, die Polizei zu rufen – für einen rechtmäßigen Aufenthalt, der Voraussetzung für eine Einbürgerung war, durfte man sich nichts zuschulden kommen lassen.
Sie haben sich Ihr Leben lang in verschiedene Kulturen integriert…
Yüksel: Ich habe fünf Kulturen erlebt: die aramäische, die türkische, die arabische, die kurdische und die deutsche. Von jeder Kultur habe ich etwas mitgenommen. Wenn man in vielen Kulturen gelebt hat, ist es leichter, sich zu integrieren.
Was ist das Wichtigste, damit Integration gelingen kann?
Yüksel: Der Schlüssel ist Sprache. Wenn man die Sprache eines Landes nicht kann, kann man sich nicht integrieren. Kommunikation muss möglich sein. Ich spreche fünf Sprachen: kurdisch, arabisch, türkisch, deutsch – und natürlich aramäisch.
Welche Sprache ist vorherrschend in Ihrem Kopf?
Yüksel: Aramäisch. Zuhause aramäisch, draußen natürlich Deutsch. Es ist wichtig, die eigene Sprache zu behalten. Aramäisch ist eine ganz alte Kultursprache, die auch Jesus Christus gesprochen hat.
Sie sind syrisch-orthodoxer Christ. Welche Rolle hat Ihr Glaube beim Ankommen in Deutschland gespielt?
Yüksel: Eine große. Ich habe, als ich 1966 nach Deutschland kam, viel Hilfe bekommen. Insbesondere der Kontakt mit der katholischen Kirche war gut. 1968 haben wir den damaligen Dekan Josef Zobel kennengelernt, der für uns wie ein Vater war. Und seit 40 Jahren halten wir Aramäer unsere Gottesdienste in der Kreuzkirche Ochsenfurt.
Grimm: Das Besondere an der aramäischen Identität ist ja, dass sie gleichzeitig eine ethnische und eine religiöse Zugehörigkeit in sich vereint. Man hat eine bestimmte Volkszugehörigkeit – mit der automatisch eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit verbunden ist.
Yüksel: Wir Aramäer haben in Deutschland 52 Kirchen gebaut. Kirche ist wichtig für uns. Wir haben nirgendwo eine Regierung, wir sind auf der ganzen Welt verstreut. Unsere Regierung ist die Kirche. Und: Durch die Kirche ist bis heute unsere Sprache erhalten geblieben. Gäbe es die Kirche nicht, wäre auch unsere Sprache weg.
Warum sind Sie in den 60er-Jahren nach Deutschland gekommen?
Yüksel: Für meine Kinder, meine zwei Söhne. Dass sie nicht zurück in die Türkei und zum Militär müssen. Gott sei Dank haben wir es geschafft, 1981 sind wir eingebürgert worden. Am Anfang haben wir uns nicht allzuviele Hoffnungen gemacht – damals hieß es, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Deswegen sind viele Aramäer nach Schweden ausgewandert. Dort war es leichter, als Asylant anerkannt und eingebürgert zu werden.
Sie aber wollten in Deutschland bleiben?
Yüksel: Nachdem ich die deutsche Sprache gelernt hatte, war für mich klar: Warum sollten wir nach Schweden und da noch mal ganz von vorne anfangen? Deutschland ist heute das beste Land in Europa – sogar in der Welt. Ich habe in Deutschland nie Schwierigkeiten bekommen – vielleicht auch, weil ich immer viel gemacht habe und bekannt war: Ich war Betriebsrat, Dolmetscher, Vertrauensmann der Gewerkschaft und Vorarbeiter. Das waren schöne, lebendige Zeiten.
Was bedeutet Deutschsein für Sie?
Yüksel: Für mich ist Deutsch eine Staatszugehörigkeit. Ich werde nie ein echter Deutscher sein. Als Deutschen könnten mich die Deutschen auch gar nicht akzeptieren – als deutschen Staatsbürger schon. Ich bin Aramäer, meine Identität bleibt, aber ich bin deutscher Staatsbürger – mit sämtlichen Rechten und Pflichten.