Was stellt das Gehirn nachts mit dem an, was es tagsüber gelernt hat? Damit befasst sich der Schlaf- und Gedächtnisforscher Jan Born von der Universität Tübingen. Für seine wissenschaftlichen Verdienste auf diesem Gebiet ist der 59-jährige Neurowissenschaftler am Freitag mit dem Oswald-Külpe-Preis 2017 des Würzburger Instituts für Psychologie ausgezeichnet worden. Jan Born ist Inhaber des Lehrstuhl für Medizinische Psychologie in Tübingen. In seinem Festvortrag sprach er über die Gedächtnisfunktion des Schlafs. Denn er zeigte durch seine Forschungen unter anderem, dass sich das Gedächtnis im Tiefschlaf bildet.
Frage: Herr Professor Born, warum schlafen wir?
Jan Born: Gute Frage! Die Forschung hat da keine klare Antwort. Wir brauchen Schlaf, das ist sicher. Wenn wir nicht schlafen, wenn man Schlaf unterdrückt, stirbt man. Das heißt: Schlaf ist notwendig. Und unsere Antwort als Neurowissenschaftler heißt, dass wir vor allem deswegen schlafen, um ein langfristiges Gedächtnis zu bilden. Das scheint tatsächlich eine der wesentlichen Funktionen des Schlafes zu sein, die auch erklären könnte, warum man im Schlaf im Grunde genommen das Bewusstsein verliert. Das Gehirn schaltet in einen anderen Modus. Und dieser Modus ist förderlich für die Gedächtnisbildung.
Bewusstsein verlieren klingt erst mal nicht gut.
Born: Ja, man kann nicht auf äußere Reize reagieren. Im Grunde ist das etwas in der Evolution, das schwer erklärbar ist. Wenn ein Tier schläft, ist es angreifbar und eine leichte Beute von Raubtieren. Evolutionär gesehen ist der Schlaf erst einmal keine gewinnbringende Anpassung für die Arten. Aber der Gewinn ist eben, dass Gedächtnis von wichtigen Dingen gebildet werden kann. Und mit diesem Gedächtnis können sich die Tiere und auch der Mensch längerfristig und besser an ihre Umwelt anpassen, besser überleben.
Gibt es in der Tierwelt einen Zusammenhang zwischen Größe des Gehirns und Schlaf?
Born: Nur grob. Die Größe als solche ist eher weniger bedeutend. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und intelligenten Leistungen des Gehirns und Schlaf. Wir Menschen haben die höchsten komplexen kognitiven Fähigkeiten. Und wir zeigen, wenn man es physiologisch betrachtet, den tiefsten Schlaf. Nicht unbedingt die Dauer ist entscheidend, sondern vor allem die Natur des Schlafs. Der tiefe Schlaf, der Deltaschlaf, ist bei uns Menschen wirklich sehr ausgeprägt und am weitesten entwickelt. Ich neige dazu zu sagen: Der Schlaf des Menschen ist der schönste Schlaf.
Was ist denn aus wissenschaftlicher Sicht ein tiefer Schlaf?
Born: Man kann Schlaf mit dem EEG, mit den Hirnstrom-Kurven, messen. Und da sieht man im Stadium des Tiefschlafs oder Deltaschlafs langsame Wellen. Und diese langsamen Wellen sind beim Menschen eben besonders hoch und besonders andauernd. Man sieht sie auch bei der Ratte oder der Katze. Aber wenn man die Arten vergleicht ist ganz klar, der Mensch zeigt den tiefsten Schlaf. Wenn man auf die Evolution schaut: Es gibt schlafähnliche Zustände auch bei ganz einfachen Lebewesen wie Würmern. Ein Wurm schläft auch, und erstaunlicherweise nur in Phasen seines Lebens, wo er viel lernen, viel Gedächtnis bilden muss.
Wann muss ein Wurm viel lernen?
Born: Zum Beispiel am Anfang seines Lebens, quasi nach seiner Geburt. Das ist ja auch beim Menschen so. Säuglinge und Kinder schlafen viel.
Nicht nur, weil sie noch nicht so viel machen können. Sondern weil sie den Schlaf brauchen?
Born: Ja. Es ist noch nicht experimentell erwiesen. Aber man kann vermuten, dass ein Säugling, wenn er auf die Welt kommt, an einer Überstimulation, einer Informationsflut, leidet. Wenn die neuronalen Netzwerke voll sind, die er braucht, um etwas aufzunehmen, dann versinkt er erst einmal in Schlaf, um die Informationen zu verarbeiten. So einfach ist es. Und bei diesem Wiederverarbeiten der Information im Schlaf bildet er Gedächtnisstrukturen aus. Gedächtnisbildung heißt nicht einfach eine Kopie abspeichern. Es geht um das Herausfiltern, um das Bilden von fixen Strukturen, die immer wieder auftauchen. Das ist das wichtigste: Gedächtnisbildung beschränkt sich nicht darauf, etwas längerfristig abrufbar zu halten im Gehirn. Sondern es zu strukturieren, zu ordnen, ein System hineinzubringen, um es wiedererkennen zu können. Es ist sogar so, dass der Schlaf Gedächtnis bildet, also wirklich schafft. In dem Sinne, dass etwas erst nach dem Schlaf abrufbar wird, was vorher nicht abrufbar war.
Wie testen Sie das?
Born: Erwachsenen kann man zum Beispiel eine Art Zahlenrätsel vorgeben: viele Zahlenreihen, hinter denen verdeckt Strukturen liegen. Die entdeckt man beim Rumprobieren erst mal nicht. Wenn man darüber schläft, erkennt man die Strukturen auf einmal. Daran kann man sehen: Es ist nicht ein reines Festhalten im Gedächtnis, das im Schlaf stattfindet. Es ist ein Herausarbeiten von Strukturen.
Sie haben es gerade gesagt: Darüber schlafen! Dann ist an der Redewendung also was dran. Wie ist es bei alten Menschen? Hat und braucht man im Alter einen tiefen Schlaf?
Born: Mit dem 40. Lebensjahr nimmt der Tiefschlaf wieder ab. Damit geht auch die Fähigkeit einher, neues Gedächtnis zu bilden. Ich weiß es aus eigener Erfahrung: Wenn sie als wenig Sprachbegabter eine neue Sprache lernen wollen, fällt Ihnen das mit zunehmendem Alter wirklich schwer. Der Grund ist meines Erachtens, dass im Schlaf tatsächlich dann nicht mehr so gut neue Strukturen herausgebildet werden können. Man kann sagen: Mit der Abnahme des Tiefschlafs beim Menschen im Alter nimmt die Fähigkeit ab, neues Gedächtnis herauszubilden. Nun ist beim älteren Menschen diese Gedächtnisbildung auch nicht mehr so notwendig.
Er hat ja extrem viele Schemata, übergeordnete Strukturen in seinem Langzeitgedächtnis und kann neues Material mehr oder wenig ad hoc an die bestehenden Strukturen anpassen.
Wenn man als älterer Mensch etwas lernen will – dann sollte man viel schlafen?
Born: Und anders herum: Wenn man einen alten Menschen dazu zwingt, neu zu lernen, kann man darüber auch seinen Schlaf verbessern, seinen Schlaf tiefer machen.
Lernen als bessere Schlaftablette? Wer schlecht und wenig schläft, sollte statt eine Tablette zu nehmen einfach eine neue Sprache lernen?
Born: Zum Beispiel. Ich bin kein Schlafmediziner. Aber die Kollegen aus der Klinik sagen, es ist gut, wenn die alten Menschen eben nicht Mittagschlaf machen, sondern sich einerseits bewegen und andererseits mental aktiv sind. Sich tagsüber aktiv mit Neuem zu beschäftigen ist gut. Dass das Gehirn mit Neuem konfrontiert ist, hat als Reaktion eine Vertiefung des Schlafes in der Nacht zur Folge.
Ist das jetzt eine grundsätzliche Absage an den Mittagsschlaf?
Born: Naja, es ist auf jeden Fall falsch, mittags zu schlafen, wenn man nachts nicht schlafen kann. Wenn sie tagsüber aktiver sind, werden sie automatisch nachts ruhiger, ruhender. Dadurch können sie indirekt den Schlaf verstärken. In heißen Ländern ist der Mittagsschlaf, die Siesta, natürlich sinnvoll, weil man bei der großen Hitze nicht aktiv sein kann.
Wie viele Tiefschlafphasen haben wir in einer durchschnittlichen Nacht?
Born: Also, wirklich ausgeprägt sind maximal drei. Der Schlafzyklus dauert etwa 100 Minuten, vier bis fünf hat man in einer Nacht. Aber die letzten beiden Zyklen haben eigentlich kaum noch Tiefschlaf. Der meiste Tiefschlaf wird in den ersten vier, fünf Stunden durchlaufen.
Was genau wird denn abgespeichert, festgehalten? Was von all unseren Erlebnissen eines Tages kommt ins Gedächtnis?
Born: Genau das ist der Punkt. Das ist die Frage, die viele Forscher interessiert. Es wird in der Tat nicht alles abgespeichert, sondern nur Bestimmtes. Aber was? Da gibt es nur vage Vermutungen. Man weiß, dass „emotionalisiertes“ Material eher in den Langzeitspeicher kommt, also Dinge, die mit Emotion verbunden sind. Ich persönlich finde einen zweiten Aspekt sehr interessant: die eigenen Pläne. Es spielt wohl eine Rolle, was man sich selber vornimmt. Wenn man sich etwas merkt, weil man später etwas damit anfangen will, profitiert man vom Schlaf sehr viel mehr.
Wer viel schläft, ist schlauer?
Born: Wer gut schläft, ist schlauer. So würde ich sagen.
Was ist guter Schlaf?
Born: Grundsätzlich muss man sagen: Wie man den Schlaf physiologisch sieht, hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, wie die Menschen ihren Schlaf selbst empfinden. Man erinnert sich nach einer Nacht an die Wachphasen, an das Problem, über das man vielleicht kurz brütete. Die bewusstlosen Phasen, wo man tatsächlich schläft, sind Löcher in der Erinnerung. Deshalb ist es häufig eine Fehlbewertung, wenn man sagt: Man schläft ständig schlecht oder gar nicht. Das stimmt häufig nicht: Man erinnert sich nur besonders gut an die sehr kurzen Wachphasen.
Und es sagt gar nichts aus über die Qualität. Es ist so verblüffend, wie das subjektive Urteil über den Schlaf oft extrem abweicht von dem, was man im EEG sieht.
Das heißt: Wenn jemand klagt, er habe gar nicht geschlafen, müsste man ihm nur die Hirnstromkurve zeigen? Was ist aus wissenschaftlicher Sicht ein guter Schlaf?
Born: Viel Tiefschlaf. Und ein Schlaf mit wenigen Unterbrechungen.
Kann man dafür etwas tun?
Born: Ja, wie gesagt: Kräftige mentale und physische Aktivität tagsüber. Und Lichteinfluss während des Tages. Und man sollte vermeiden, kurz vor dem Schlafen noch besonders aktiv zu sein, abends lernen, abends Sport treiben. Das ist nicht gut.
Spielen die Traumphasen eine Rolle bei der Gedächtnisbildung?
Born: Traumphasen werden ja häufig mit dem Rapid-Eye-Movement-Schlaf gleichgesetzt, dem REM-Schlaf. Wenn Sie die REM-Schlaf-Phasen meinen, dann haben sie einen zusätzlichen Beitrag – aber er ist weniger klar. Es kann sein, dass der REM-Schlaf gerade die emotionalisierten Momente noch einmal zusätzlich verstärkt. Der Kern der Gedächtnisbildung findet aber klar im Deltaschlaf statt.
Gibt es etwas am Schlaf, was für Sie noch ein großes Rätsel ist? Was Sie unbedingt noch herausfinden wollen?
Born: Was mich schon beschäftigt ist letztlich die Frage: Warum verlieren wir im Schlaf eigentlich das Bewusstsein? Warum erfordert die Gedächtnisbildung das offenbar? Wir sehen, dass es so ist. Aber warum? Man kann sich ja auch vorstellen, dass die Netzwerke des Gehirns parallel weiter wach sind, aufmerksam sind für äußere Reize und gleichzeitig Gedächtnis gebildet wird. Aber nein, das funktioniert nicht.
Der Oswald-Külpe-Preis
Das Institut für Psychologie vergibt den mit 4000 Euro dotierten Preis seit 2005 im Turnus von zwei Jahren. Es zeichnet damit Persönlichkeiten aus, die bei der experimentellen Erforschung höherer mentaler Prozesse Herausragendes geleistet haben. Ins Leben gerufen wurde der Preis vom inzwischen emeritierten Würzburger Psychologie-Professor Fritz Strack: Er stiftete ihn durch eine Zuspende zur Sparkassenstiftung der Stadt Würzburg.
Der Preis erinnert an den Wissenschaftler Oswald Külpe (1862-1915), der 1896 das Würzburger Psychologische Institut gründete und als Vater der „Würzburger Schule der Denkpsychologie“ in die Wissenschaftsgeschichte einging. Die Vertreter dieser Forschungsrichtung waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ersten, die höhere geistige Prozesse wie das Denken, Wollen und Urteilen experimentell untersuchten – was damals noch als unwissenschaftlich galt.