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WÜRZBURG
Warum hinter der Partymeile die Armut anfing
Alice Natter
 |  aktualisiert: 27.04.2023 01:47 Uhr
„Ich würde so gerne eine romantische Geschichte erzählen. Aber es gibt keine.“
Wolfgang Jung in der Rosengasse

Es ist halt der Platz vor dem Hotel Walfisch. Dass die freie Fläche mit den Bänken und Bäumchen, direkt am Willy-Brandt-Kai genau vis-a-vis der Festung, seit acht Jahren „Felix-Freudenberger-Platz“ heißt? Die meisten Würzburger wissen's nicht. Und „Google“ wusste es bislang auch nicht. Zwar hatte die Stadt die Namensänderung dem Suchmaschinen-Betreiber gemeldet. Doch bei Google blieb der Platz namenlos. Jetzt ist das anders: Wer jetzt die amtliche Bezeichnung sucht, wird vom Unternehmen zum Treffpunkt einer Stadtführung der anderen Art gelotst: Herzlich willkommen am „Felix-Freudenberger-Platz“, herzlich willkommen dienstags und donnerstags zur neuen Tour von Wolfgang Jung.

Genau. Diese Führung beginnt nicht am Rathaus, nicht am Falkenhaus, nicht an der Residenz. Es geht auch nicht um große Schlossbaumeister, Mächtige und Berühmte, nicht um Kunstgeschichte oder Sehenswürdigkeiten. Es geht in ein Viertel und an Orte, an die sich manch gebürtiger Würzburger sein Leben lang noch nicht hinverirrt hat. Und es geht um Liebe und Gewalt, Sünde und Reue, Arbeit und Alltäglichkeiten aus über 1000 Jahren. Denn, Jung erzählt in den Gassen und Höfen des Reurerviertels in diesem Sommer über „Die kleinen Leute von Würzburg“.

Dran vorbei kommt an diesem Viertel jeder mal: Zwischen Mainkai und Partymeile Sanderstraße schlängeln und biegen sich die engen Gassen, in denen früher die wohnten, die nichts waren und nichts hatten. Das Reurer war das Armeleuteviertel, die Gegend der Häcker und Weingärtner, der Habenichtse, Tagelöhner, Kasernierten. Und genau um die geht es dem Journalisten, der auch für die Main-Post arbeitet, auf seiner neuen Tour. Wolfgang Jung will Geschichte und Geschichten erzählen „über Leute und Umstände, die vergessen und verdrängt sind“.

Oder es lange waren. So wie Felix Freudenberger, 1874 in Heidingsfeld als eines von elf Kindern einer jüdischen Lehrerfamilie geboren, Buchhändler, Vordenker der Arbeiterbewegung in Unterfranken und von der bayerischen Polizei als Sozialdemokrat und Jude überwacht. Wenn die Spitzel, die Hunderte von Berichten über den Gewerkschafter schrieben, geahnt hätten, dass nach Freudenberger 90 Jahre später ein Platz benannt ist!

Wie wär's mit Henny-Ullmann-Gasse?

Schon geht es mit in die Reibeltgasse, die auch Erwin-Pelzig-Promenade heißen könnte, denn Frank-Markus Barwasser wohnte mal hier. Lieber noch wäre es Geschichtsvermittler Jung, die Gasse wäre nach Henny Ullmann benannt. Eine Jüdin, die im Dritten Reich Unfassbares . . . . „Ja“, sagt Jung, es seien „schlimme Geschichten“, die er im Reurerviertel erzähle. Aus der Nazizeit, aus den Jahrhunderten davor. 20 Stolpersteine gibt es im kleinen Quartier, die 16 Würfel im Asphalt vor der Haus Nummer 6 „Am Pleidenturm“ beispielsweise sind Sinti-Familien gewidmet. In der Reibeltgasse erinnert ein Stein an die tapfere Henny Ullmann.

Von Dirnen und Abortfegern

Und Wolfgang Jung erzählt – mit Manuskript unterm Arm und zwei Klappstühlen für die Fuß- und Lendenlahmen über der Schulter – von der Kaserne, die sich hier parallel des Mains entlang streckte. Er erinnert an namenlose arme Sünder, die im Stockhaus auf ihre Hinrichtungen warteten. Er berichtet von unehelichen Kindern und von Frauen, die von ihren Männern verprügelt wurden. Von Leuten, die sich in der Badestube die Haare scheren und Aderlässe verpassen ließen, von Dirnen und Klosterschwestern, Leprakranken und Abortfegern. „Ich würde so gerne eine romantische Geschichte erzählen“, sagt Jung in einem Hof der Rosengasse und inszeniert die Verzweiflung: „Aber es gibt keine!“

Die erste Tour war ein Geburtstagsgeschenk

Seit fünf Jahren macht der 55-Jährige nun Führungen nicht für Gäste, sondern für Würzburger. Er hatte seiner Liebsten zum Geburtstag eine Stadtführung versprochen, und sie wollte sie tatsächlich haben. Also entwarf der Journalist eine Tour, die der Liebsten gefallen würde – und anderen auch. „Vom schönen Schein und bösen Sein einer alten Stadt“ nannte er die Führung, in der er den Sommer lang von schmutzigen Geschichten hinter den schmucken Fassaden von Residenz, Bischofspalais, Neumünster und Rathaus erzählte.

Zwei weitere Stadtspaziergänge hat er seitdem zusammengestellt, in denen er vermittelt „was die da oben gegen die da unten unternommen haben, und wie die da unten versucht haben, sich gegen die da oben zu wehren“. Aber tatsächlich, sagt Jung, habe er „gar nicht gewusst, wie es denen unten so ging“. Von den „kleinen“ Leuten selbst ist aus erster Hand nichts überliefert und kundgetan. Und über die „kleinen“ Leute nur das, was im Laufe der Jahrhunderte aktenkundig wurde, weil jemand aus dem Rahmen fiel und Ärger mit Polizei oder Stadtrat bekam.

Die Teilnehmer nehmen Anteil

Im Reurerviertel mit seinem rauen Charme, den tristen Höfen und Geranien-freien, schmucklosen Fassaden, versucht er sich mit seinen Zuhörern dem Alltag, der Wirklichkeit zu nähern. Und die Teilnehmer – anders als den Vorgänger-Touren – hören nicht nur zu. „Sie nehmen Anteil“, sagt Jung. „Die Leute haben mehr Fragen und selbst viel zu erzählen.

“ Er selbst erkläre weniger, „weil ich vieles nicht erklären kann“. Nicht, wie sich die Leute fühlten, nicht wie das Leben im Beengten, Armen, Kargen, Reglementierten, Beobachteten, Geächteten wirklich war. Es gibt wenige Fakten über die „kleinen“ Leute. „Vom Lebensgefühl wissen wir nichts. Wir können nur ahnen und versuchen uns hinein zu fühlen.“

Auf seiner Webseite gibt Wolfgang Jung die Literatur an, die er verwendet. Weil er sich wünscht, dass der Gang in versteckte Höfe und abseitige Gassen zum Vertiefen anregt. Umso mehr freut sich der Geschichtenkundige über neue Fakten und Anekdötle, die er zwischen Hirtenturm und Hotel Walfisch erfährt. Zwischen Hirtenturm und Hotel Walfisch? Zwischen Löwenbrücke und Felix-Freudenberger-Platz! Denn, ein Erfolg der Führung ist gewiss: Am Ende des Sommers werden einige Würzburger wissen, wo dieser Platz ist.

Termine und Infos

Die Stadtführung „Die kleinen Leute von Würzburg“ macht Wolfgang Jung bis in den Herbst immer dienstags und donnerstags, ab 19.30 Uhr. Dauer: rund zwei Stunden. Start und Ziel: Felix-Freudenberger-Platz. Infos und Material zur Führung gibt's hier: www.schreibdasauf.info

Einst Heimat von Häcker, Habenichtsen, Tagelöhnern und Kasernierten: Wolfgang Jung führt durch das Reurerviertel.
Foto: Thomas Obermeier | Einst Heimat von Häcker, Habenichtsen, Tagelöhnern und Kasernierten: Wolfgang Jung führt durch das Reurerviertel.
 
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