Schweißtropfen rinnen ihm über die Wangen, verfangen sich im Bart. Matthias Karl beachtet sie nicht. Aktuell ist er nicht er selbst. Er steckt in Leder und Leinen, die enge Haube auf seinem Kopf lässt nur den unteren Teil des Gesichtes frei und Schlitze für die Augen. Die Pupillen fixieren das Richtschwert. Ein gezielter Hieb mit dem 2,7 Kilo schweren Stahl zwischen zwei Wirbelknochen trennte im Mittelalter den Kopf eines Menschen von dessen Rumpf. Dann johlte die Menge, die der öffentlichen Hinrichtung wie einem Spektakel beiwohnte.
Mit der Häretikergabel spießten "Ketzer" sich selbst auf
Es ist Wochenende. Und es ist Sommer. In dieser Zeit verwandelt sich Matthias Karl aus dem Würzburger Stadtteil Grombühl in den Scharfrichter "Meister Johannes". Der 49-Jährige schlüpft auf mittelalterlichen Märkten in eine ambivalente, blutige Rolle. Es war der vererbte Lebensinhalt eines Scharfrichters, Verurteilte zu richten, mit dem Schwert oder dem Strang, der Peitsche oder dem Beil. All diese Utensilien - und noch viele mehr - zeigt Karl auf einem Tisch, den er direkt neben seinem Scharfrichter-Zelt aufgebaut hat. Fast jedes Wochenende zieht er auf diese Weise durch die Lande.
Nicht immer sollten die Menschen sterben. "Für Ruhestörung und Zechprellerei zwängte man den Kopf des Delinquenten in so eine Schandmaske" – Karl hebt einen Metallkäfig hoch – "oder in eine hölzerne Schandgeige". Wehrlos war der so Fixierte dann dem faulen Obst oder dem Inhalt des Nachttopfs ausgeliefert, mit dem ihn jedermann bewerfen konnte. "Schwerere Delikte wie Diebstahl wurden mit Leibes- oder Amputationsstrafen geahndet: Handabschlagen zum Beispiel", erklärt Matthias Karl.
Glühende Zangen und Daumenschrauben, Peitschen oder schwere Fleischhaken taten ihr Übriges
Er weiß auch: Gestand ein Mensch die Tat nicht, die er nach Meinung der Obrigkeit begangen hatte, musste der Scharfrichter bei der "peinlichen Befragung" perfide Methoden anwenden, um Geständnisse zu erzwingen: Glühende Zangen und Daumenschrauben, Peitschen oder schwere Fleischhaken – Letztere in den Hals des Opfers gehakt – taten ihr Übriges.
"Andersgläubige, Ketzer, bekamen eine Häretikergabel mit langen spitzen Zinken zwischen Kinn und Brust gespannt." Während der Folter bohrte sich die Gabel durch das Gewicht des menschlichen Kopfes – " fünf bis sieben Kilo" – immer tiefer ins Fleisch. "Letztendlich gestanden alle ihre ’Verfehlung’ – und wurden zum Dank gnädigerweise verbrannt."
Aus den Leichen stellte der Scharfrichter Armsünderfett her
Der Scharfrichter verstümmelte Menschen, errichtete für Todeskandidaten das Schafott oder den Galgen und stellte aus dem Gewebe der Leichen Armsünderfett her, das er als Heilmittel verkaufte. Was um alles in der Welt bewegt einen Mann heute, solch eine Bestie zu mimen?
Matthias Karl denkt gründlich nach. "Was heißt Bestie? Damals gab es nur Befehl und Gehorsam. Die Obrigkeit entschied, wer schuldig war. Der Klerus billigte und unterschrieb das Urteil. Der Scharfrichter hatte es nur umzusetzen." Mitleid musste er ausblenden. Wenn sich sein Gewissen regte, gab es nur zwei Auswege: Selbstmord oder Alkohol.
Genau dieser innere Zwiespalt ist es, der Matthias Karl nicht loslässt, den er herausarbeiten und den Menschen heute erklären will. "Und ich will zeigen: So weit weg ist das alles gar nicht. In Deutschland ist der letzte Scharfrichter erst 1972 gestorben – er hatte zuvor erst für die Nazis, dann gegen die Nazis Todesurteile vollstreckt. Und auch heute noch gibt es Scharfrichter, die Menschen vom Leben zum Tod befördern – in der arabischen Welt und auch in den USA."
Ein Handwerk, das gut bezahlt wurde - aber trotzdem geächtet war
Im "echten Leben" ist Matthias Karl in einem Unternehmen für Lager- und Logistiksysteme beschäftigt. Schon als junger Erwachsener hatte der Industriekaufmann mit Gleichgesinnten die Gruppe "Magistri" gegründet. Gemeinsam zogen die Mittelalterfreunde über historische Märkte. Mit der Zeit kristallisierte sich für jeden von ihnen eine bestimmte Rolle heraus. "Die coolen waren schnell vergeben", erzählt Karl schmunzelnd. Ihm blieb die Figur des Scharfrichters. Je mehr er über dessen Leben herausfand, desto interessanter fand er es. "Viele haben zeitlebens schwer an ihrer angestammten Rolle zu tragen gehabt", hat Karl recherchiert.
Zwar gehörte der Job zu den bestbezahlten Handwerksberufen – "Scharfrichter mussten drei bis vier Jahre in die Lehre" – , andererseits konnten die Nachkommen der Henker nie aus ihrem isolierten Leben am Rand der Stadt ausbrechen. "Niemand wollte öffentlich mit ihnen gesehen werden, sie konnten nur unter Ihresgleichen heiraten und im Wirtshaus hatten sie einen Einzeltisch. Ihr Krug war an der Wand festgekettet, damit niemand versehentlich daraus trank."
Die abergläubischen Menschen kauften abgetrennte Finger von Gehenkten - gegen Gicht und Rheuma
Als Wundarzt und Heiler hatte der Scharfrichter zwar ebenfalls enorme Qualitäten und mehr Wissen als andere – kein Wunder, niemand sonst war näher dran an der menschlichen Anatomie –, aber wenn man ihn brauchte, suchte man ihn nur im Dunkel der Nacht auf. "Die Menschen damals waren sehr abergläubisch. Sie kauften heimlich den Finger eines Gehenkten und legten ihn in ihre Börse. Das sollte Reichtum bescheren. Oder sie rieben sich mit Armsünderfett ein, das Rheuma und Gicht vertreiben sollte."
Ob er selbst gerne im Mittelalter gelebt hätte? "Nein!" Matthias Karl schüttelt entschieden den Kopf. "Und ich könnte auch kein echter Scharfrichter sein. Ich hätte ja schon Skrupel, ein Tier zu schlachten." Er sieht sich in seiner Rolle als "Meister Johannes" wie ein "Botschafter der Geschichte". Und: "Für mich ist es wie Urlaub, wenn ich an den Wochenenden zwischen Mai und September ins Mittelalter abtauche. Das ist eine andere Welt, fernab vom Alltag."
Im Herbst sagt Matthias Karl dem Mittelalter Adieu. Anfang des neuen Jahres wird er zuerst im Fasching aktiv: als Trommler im Spielmannszug Ranzengarde der 1. Karnevalsgesellschaft Elferrat Würzburg. Um Pfingsten herum ersteht dann aber "Meister Johannes vom Krähenhügel" – so der alte Name Grombühls – wieder auf. Für ein halbes Jahr verkörpert er erneut das brutale Rechtssystem des Mittelalters – und den inneren Kampf, den der Scharfrichter jeden Tag neu mit sich selbst ausfechten musste. In der Rolle, aus der er zeitlebens nicht herauskam.