Am 19. Februar 2020 tötete ein Rechtsextremer im hessischen Hanau neun junge Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Sie mussten sterben, weil der Täter ihnen die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft absprach - und sie kaltblütig ermordete.
Unter dem Titel "Erinnern heißt verändern" ist der Anschlag von Hanau jetzt Thema für Museen. Auch für den Kulturspeicher in Würzburg, der die Ausstellung, eine Koproduktion mit dem Frankfurter Kunstverein, dem Haus der Kulturen der Welt Berlin sowie dem Württembergischen Kunstverein Stuttgart, bis einschließlich 1. September zeigt.
Auf großformatigen Tafeln, mithilfe von Video- und 3D-Animationen rekonstruieren die Macher von Forensic Architecture, einem investigativen Architekturbüro aus Berlin, teilweise sekundengenau das Geschehen am Abend des Attentats sowie die ihrer Ansicht nach bis heute nicht aufgeklärten polizeilichen und politischen Versäumnisse.
Welche Verantwortung tragen die Behörden dafür, dass der Notausgang in der Arena-Bar, einem der Tatorte, in der Tatnacht geschlossen war? Warum liefen mehrere Notrufe von Villi-Viorel Păun ins Leere? Er hatte noch versucht, den Mörder zu stoppen, bevor dieser schließlich auch ihn erschoss. Warum wurde der Eingang des Hauses, in dem der Täter sich nach den Morden verschanzt hatte, zwischenzeitlich nur unzureichend überwacht?
"Ein exemplarischer Fall rassistischer Gewalt in Deutschland"
Einen Prozess, der Aufklärung hätte bringen können, gab es nicht, weil sich der Mörder nach seinen Taten selbst richtete. Die Erkenntnisse, die ein Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag zutage förderte, reichen den Angehörigen, ihren Unterstützerinnen und Unterstützern nicht aus. Im Gegenteil: Sie leiden bis heute aufgrund fehlender Antworten.
Die Ausstellungsmacher ergreifen Partei, für sie ist das Attentat keine singuläre Tat eines Verwirrten, sondern ein "exemplarischer Fall struktureller rassistischer und rechtsextremer Gewalt in Deutschland". Den politisch Verantwortlichen werfen die Rechercheure Dimitra Andritsou und Robert Trafford vor, sich vor ihrer Verantwortung für die Pannen in Hanau zu drücken.
Auf zehn Stelen sind in einem zweiten Raum Videos der Angehörigen zu sehen und hören, die erzählen, was für lebenshungrige Menschen sie mit ihrem Sohn, ihrem Bruder oder ihrer Mutter verloren haben. Unendlich traurige, aber eben auch sehr menschliche Dokumente, die zeigen, welche Lücken der Mörder in den Familien der Opfer gerissen hat. "Sedat war der Sonnenschein der Familie, er hat das Leben geliebt", sagt die Mutter von Sedat Gürbüz mit erstickter Stimme.
So wichtig die Aufarbeitung der Mordnacht auch ist, so richtig die gestellten Fragen sind: Sind Museen tatsächlich der richtige Ort für diese Auseinandersetzung? Für Marcus Hurttig, den neuen Direktor des Kulturspeichers, ist das keine Frage. "Selbstverständlich müssen wir da mitmachen", sagt er. Schließlich sei es eine Aufgabe von Museen, den gesellschaftlichen Diskurs zu befördern, mit künstlerischen, ästhetischen Mitteln, wie sie Forensic Architecture biete, Wissen zu vermitteln, Fragen zu stellen und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Kunst habe in der Vergangenheit, egal ob man die Pyramiden oder Statuen und Bilder von Päpsten und Königen betrachte, das Wirken der Mächtigen - "und damit vieler Täter" - thematisiert, sagt Hurttig. Die Ausstellung "Erinnern heißt verändern" hole hingegen die Opferperspektive ins Museum. Ganz bewusst veranstalte man auch Führungen mit Angehörigen der Ermordeten.
Struktureller Rassismus sei weit verbreitet in der Gesellschaft, sagt Hurttig. Dass der Mörder in Hanau getötet hat, sei Zufall gewesen. "Es hätte auch Würzburg treffen können."
Führungen mit Angehörigen der Hanau-Opfer und Überlebenden bietet der Kulturspeicher unter anderem am 22. Juni, 20. Juli und 17. August, jeweils um 14 Uhr, an. Weitere Infos: kulturspeicher.de