Zwei Ausrufezeichen – darunter machten es Vaters Lichtspiele nicht. Am Dienstag, 3. August 1926, kündigte das nach seinem Besitzer benannte Kino in der Martinstraße mit einer blattbreiten Anzeige im Würzburger General-Anzeiger „Die große Kanone!!“ an.
Das Kino beehrte sich, ab Donnerstag ein „kurzes Gastspiel des berühmten Original C. P. Chaplin“ anzuzeigen. Skeptiker hatten keine Chance. Er war es wirklich, er „kommt persönlich“, stand in der Annonce.
Dass der legendäre Stummfilm-Star eine Woche lang in Vaters Lichtspielen auftreten sollte, war eine Sensation. Denn der 37-jährige mehrfache Millionär, der im August des Vorjahres sein Meisterwerk, den auch in Würzburg erfolgreichen „Goldrausch“, vorgelegt hatte, war in diesem Jahr eigentlich mit Wichtigerem beschäftigt. Chaplin drehte gerade seinen nächsten Film „Zirkus“ und er führte eine turbulente Ehe mit der 18-jährigen Schauspielerin Lita Grey. Im März 1926 wurde der zweite gemeinsame Sohn Sidney geboren, in November zog die Ehefrau mit beiden Kindern aus Chaplins Haus aus.
Grey hatte zunächst die Hauptrolle in „Goldrausch“ spielen sollen, war aber von Chaplin schwanger geworden. Da eine sexuelle Beziehung mit Minderjährigen nach kalifornischem Recht einer Vergewaltigung gleichkam, hatte Chaplin keinen anderen Ausweg gesehen als die sofortige Eheschließung im November 1924. Fünf Monate später war der erste Sohn Charles jr. geboren worden.
In England musste sich Chaplin 1926 zudem um den quasidokumentarischen Kurzfilm „The Story of Charles Chaplin“ kümmern, in dem seine Jugend in London und sein Aufstieg zum bekanntesten Filmstar der Welt nachgezeichnet wurden. Dies hätte Chaplin wahrscheinlich kaum gestört, doch die Tatsache, dass auch seine Vorliebe für sehr junge Frauen thematisiert wurde, brachte ihn dazu, die Veröffentlichung des Streifens – möglicherweise mit viel Geld – zu verhindern. Nur auf Prominentenpartys in Hollywood kursierte der Film.
Und doch war es Vaters Lichtspielen gelungen, den viel beschäftigten Chaplin nach Würzburg zu lotsen? Am Mittwoch, 4. August, widerlegte das Kino, wieder im General-Anzeiger (WGA), alle Zweifler. Neben einer Zeichnung, die eindeutig Charlie Chaplin als Tramp zeigte, stand: „Er wird Sie köstlich unterhalten. Es lohnt sich stundenweit zu gehen, um ihn zu sehen: Sie werden Tränen lachen!“
Charlie Chaplin war seit „Goldrausch“ auch für die Würzburger ein bekannter Star. Zuvor hatten sie lediglich die Kurzfilme „Chaplin im Warenhaus“ (1922) und „Chaplin plagt die Eifersucht“ (1923) zu sehen bekommen. Doch nun sollte der „Goldrausch“-Macher sogar selbst an den Main kommen.
Merkwürdig war nur die plötzliche Namensänderung in der WGA-Anzeige vom 4. August. Aus „C. P. Chaplin“, was man großzügig als „Charlie Chaplin“ interpretieren konnte, war nun „E. P. Chaplin“ geworden. Die „große Kanone!“ (diesmal mit einem Ausrufezeichen) hatte allerdings erneut ihr „persönliches Auftreten“ angekündigt.
Es kamen der Donnerstag und der Programmwechsel und mit ihm der Beginn des Gastspiels jenes Mannes, der jedenfalls den Nachnamen „Chaplin“ trug, wer immer er auch sein mochte. Als die Leser des General-Anzeiger – die drei übrigen Würzburger Tageszeitungen nahmen die Sensation bislang nicht zur Kenntnis – am Morgen das Blatt aufschlugen, sahen sie endlich klarer: Jetzt kündigten Vaters Lichtspiele nämlich ein „persönliches Auftreten des besten deutschen E. P. Chaplin Imitator“ an. Die machte schon mehr Sinn, denn als Hauptfilm lief nach dessen Auftritt nicht etwa ein Chaplin-Streifen, sondern der „echt deutsche Film“ „Der Bergadler“ mit dem heute vergessenen Bernhard Goetzke in der Hauptrolle. Es schien sich also um einen deutschen Komiker zu handeln, der sich den Künstlernamen „E. P. Chaplin“ zugelegt hatte und in dessen Aufmachung vor einem deutschen Heimatfilm eine halbe Stunde lang Chaplin-Späße vorführte.
Kaum hatten sich die Würzburger an diese neue und logischere Sicht der Dinge gewöhnt, schreckte sie am Samstag, 7. August, nachdem die Anzeige am Vortag noch ein weiteres Mal erschienen war, eine Meldung im General-Anzeiger auf. Der Chef von Vaters Lichtspielen legte nun Wert auf die Feststellung, dass es sich nicht etwa um einen Imitator, sondern „um E. P. Chaplin selbst“ handle. Damit hatte die Verwirrung ihren Höhepunkt erreicht. Ob die Leserinnen und Leser aus der Nachricht, dass nicht ein Imitator des Imitators, sondern der Imitator selbst auftrete, schlau wurden, ist nicht überliefert. Das Gastspiel das falschen Chaplin in Würzburg scheint jedenfalls ein großer Erfolg geworden zu sein.
Während das Fränkische Volksblatt und die Fränkische Landeszeitung, zwei weitere in Würzburg erscheinende Tageszeitungen, die Auftritte des deutschen Chaplin mit keinem Wort erwähnten und auch keine Anzeigen veröffentlichten, widmete das SPD-Blatt Fränkischer Volkfreund am Freitag, 6. August, dem Besucher sogar einen längeren Artikel – als einziges Würzburger Blatt. Der Rezensent nannte ihn einen „Komiker, der es dem ,wirklichen? Chaplin gleichtun will und der als vorzüglicher Imitator des Lustspielhelden angesprochen werden“ müsse.
Die „gewaltige Originalität, die Chaplins Ruf begründet“, erkenne man auch bei dem Deutschen, der „seinem Vorbild das Köstlichste abgesehen“ habe.
Nach einer Woche war das Gastspiel vorbei, doch die Fans des wirklichen Chaplin brauchten nicht lange zu warten, da im selben Jahr noch der drei Jahre zuvor entstandene Chaplin-Streifen „Die Nächte einer schönen Frau“ auf die Leinwand des Lu-Li kam. In seinem ersten dramatischen Film hatte der Meister freilich nur einen Kurzauftritt.
Eine Hauptrolle spielte er im Jahr darauf dagegen monatelang in der weltweilten Boulevardpresse. Im Januar 1927 wurde Lita Greys Scheidungsklage veröffentlicht, in der sie Chaplin „Perversionen“ und „Tyrannei“ vorwarf; er habe sie zur Abtreibung und zu ungewöhnlichen Sexpraktiken überreden wollen, hieß es weiter. Eine heftige Pressekampagne gegen Chaplin war die Folge. Am 22. August 1927 wurde die Ehe nach einem aufsehenerregenden Prozess geschieden; die Mutter erhielt das alleinige Sorgerecht für die beiden Söhne. Insgesamt kostete die Scheidung Chaplin rund zwei Millionen Dollar. Vom 22. Februar bis zum 8.
März 1928 und somit nur wenige Wochen nach der Welturaufführung in New York zeigte das Würzburger Lu-Li dann den während seines angeblichen Würzburg-Aufenthalts gedrehten Film „Zirkus“, für den der Regisseur und Hauptdarsteller 1929 einen der erstmals verliehenen Oscars erhielt.
Am 7. April 1928 druckten die „Würzburger Filmblätter“ in ihrer ersten Ausgabe ein Interview mit Chaplin ab, in dem er seine Mission beschrieb. Diese bestehe darin, „das Schicksal der Unbekannten, das Leben und Streben der vielen kleinen Helden des Alltags, die einen ungleichen Kampf mit den Tücken des Schicksals ausfechten, ans Tageslicht zu heben“. In der heutigen Welt gebe es „für den armen Teufel kein Glück und kein glückliches Ende“.
Neue Leinwandwerke lieferte Chaplin nun drei Jahre lang nicht ab, doch brauchte das Würzburger Publikum nicht auf ihn zu verzichten. 1929 präsentierte das O-Li die schon 1915 entstandene „Carmen“-Parodie sowie den „Abenteurer“ von 1917.
Am 6. Januar 1931 war es endlich so weit: In New York wurde als nächster Film „Lichter der Großstadt“ uraufgeführt, wobei Chaplin trotz des Durchbruchs des Tonfilms weiterhin auf die Sprache verzichtete. Im April nahm das Lu-Li die „Sensation der Saison“ ins Programm, „die eine ganze Welt in Aufruhr versetzte“ (Zeitungsanzeige). Im Februar 1931 unternahm Chaplin eine Europareise. In Berlin wurde er begeistert gefeiert und traf Albert Einstein und Marlene Dietrich. Nach Würzburg freilich kam er wieder nicht.
Chaplin-Filme in Würzburg
Im Programmkino Central im Bürgerbräu laufen aus Anlass von Chaplins angeblichem Würzburg-Besuch vor 90 Jahren folgende Filme:
• „Goldrausch“ (1925, 1. Dezember, 19 Uhr).
• „Moderne Zeiten“ (1936, 2. Dezember, 19 Uhr).
• „Der große Diktator“ (1940, 3. Dezember, 18.30 Uhr).
• „The Kid“ (1921, 4. Dezember, 19 Uhr).
• „Zirkus“ (1928, 5. Dezember, 19 Uhr).
• „Rampenlicht“ (1952, 6. Dezember, 18.15 Uhr).
• „Monsieur Verdoux – Der Heiratsschwindler von Paris“ (1947, 7. Dezember, 18.30 Uhr).
Das Mainfranken Theater präsentiert am 13. Dezember um 19.30 Uhr „Lichter der Großstadt„ (1931), begleitet vom Philharmonischen Orchester Würzburg (Dirigent: Stefan Geiger).