
Wind weht durch die Baumkronen. Blätter trudeln zu Boden, Tropfen landen auf dicken Outdoorjacken. Es riecht nach nasser Erde. Die kalten Füße wollen sich bewegen, doch halten inne, als ein dürrer Ast knackend zerbricht. Zu laut in der Stille, die plötzlich so bewusst ist. Christoph Wehner steht breitbeinig auf dem Forstweg, die Augen geschlossen, die Hände tief in den Taschen der schwarzen Berghose vergraben. Stillstand im Wortsinne, darum geht es beim Waldbaden.
Und um Achtsamkeit, sagt Wehner. Um Entschleunigung. Darum, "nichts können zu müssen, einfach nur da zu sein und den Wald wahrzunehmen". Das klingt banal, langweilig fast, für manchen esoterisch. Waldbaden wird oft als Humbug belächelt und ist doch Trend – in Japan gilt es sogar als anerkannte Therapie. Wie passt das zusammen?

Samstagnachmittag im Guttenberger Forst bei Würzburg. Ersatzpullis werden übergezogen, Schals umgebunden, Mützen aufgesetzt. 14 Teilnehmer wollen es ausprobieren, das Waldbaden. Noch wandern die Blicke ein bisschen skeptisch umher, unsicher. Studentinnen sind dabei, die "gerne draußen sind", Selbstständige, die "Stress abbauen möchten", viele, die irgendwie "runter kommen wollen". In diesem Herbst bietet das Würzburger Bergwaldprojekt zum ersten Mal Waldbaden an. Bei der Premiere ist die Gruppe größer als geplant. "Das zeigt, dass die Menschen zurück wollen aus dieser schnelllebigen Zeit", sagt Naturcoach Kirsten Zieher, die das Baden gemeinsam mit Projektförster Christoph Wehner leitet.
Waldbaden ist ziellos – anders als beim Wandern muss kein Gipfel erreicht werden
Langsam, sehr langsam geht es los. Leicht bergan, zunächst auf einem breiten Weg, hinein in den Forst. Wehner und Zieher führen die Gruppe, setzen bewusst wie in Zeitlupe einen Schritt vor den anderen. Allein das ist ungewohnt und bremst alle aus, die sich kurz zuvor noch durch die wochenendhektische Würzburger Innenstadt geschoben haben. Unwillkürlich schweift der Blick nach rechts und links vom Weg ab. Moosbewachsene Stämme, eine dicke Schicht braun-orange-gelber Blätter am Boden. Auf Baumstümpfen sprießen Pilze. Ein unterarmlanges Exemplar ragt zwischen Grasbüscheln auf. Beim morgendlichen Joggen oder bei der gedankenschweren Feierabendrunde mit dem Hund würde man es wohl übersehen.

Nicht vorbeirennen, sondern bewusst wahrnehmen – eigentlich meint Waldbaden genau das. "In die Waldatmosphäre einzutauchen", sagt Wehner. Mancher müsse sich dazu ebenso überwinden wie zum Sprung vom Fünf-Meter-Brett. Und, sagt der Förster: "Waldbaden ist ziellos". Anders als beim Wandern oder Spazierengehen gibt es keinen Endpunkt, der erreicht werden soll.
In Japan wurde Waldbaden, das "Shinrin-Yoku", bereits in den 1980er Jahren vom Landwirtschaftsministerium eingeführt und man begann, die Wirkung zu erforschen. Mittlerweile ist es dort Teil der Gesundheitsvorsorge. In Deutschland entdeckt man das Baden unter Bäumen erst jetzt. Im vergangenen Jahr wurde in Hessen eine "Deutsche Akademie für Waldbaden" aufgebaut, der bundesweit erste Heilwald entstand 2017 auf der Ostseeinsel Usedom. Auch im Freistaat sollen laut Bayerischem Heilbäder-Verband Kur- und Heilwälder eingerichtet werden – in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Public Health der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Dort forscht zum Beispiel Professorin Angela Schuh, die den Fachbereich Medizinische Klimatologie, Kurortmedizin und Prävention leitet, zum Thema Waldtherapie.
"Verlässlichen Studien zufolge kann man davon ausgehen, dass das Waldbaden Stress reduziert und die Erholung fördert", sagt Schuh. Glaubt man einer Erhebung der US-amerikanischen Universität Michigan, reichen schon 20 bis 30 Minuten in einer Umgebung, die einem ein Gefühl von Natur vermittelt, um den Cortisolspiegel im Körper zu senken.

Warum aber kann man nicht einfach wie früher auch im Wald spazieren gehen? "Man kann durchaus die positiven Effekte des Waldklimas bei einem Spaziergang allein auf sich wirken lassen", sagt Schuh. Wald-Gesundheitstrainer oder Wald-Therapeuten würden aber alles erklären und zu den entsprechenden Tai Chi- oder Achtsamkeitsübungen anleiten.
Auch Kirsten Zieher und Christoph Wehner haben die Ausbildung zum Wald-Gesundheitstrainer in München absolviert. Vor einer Eiche bleiben sie stehen. Erste Aufgabe für die Gruppe: Schweigen. "Manchmal ist es herausfordernd, wenn man mit anderen zusammen ist, still zu sein", sagt Zieher. Trotzdem verstummen alle Gespräche. Minuten verstreichen im stillen Gehen. Ohne Worte. Ungewohnt.
Mit allen Sinnen die Umgebung wahrnehmen, dafür fehlt im Alltag oft die Zeit
Zieher und Wehner stoppen, wieder vor einer Eiche. Kein Zufall, auf den rund 4000 Hektar des Guttenberger Forstes seien überwiegend Eichen und Buchen heimisch, sagt Wehner. Für den Rhöner ist der Wald quasi Lebensinhalt. Er hat den Verein Bergwaldprojekt in Deutschland mit aufgebaut, sogar sein Wohnhaus ist aus Fichten und Kiefern errichtet. Warum? "Der Wald tut uns gut", sagt Wehner schlicht. Das Sonnenlicht, das an diesem trüben Herbstsamstag endlich ein bisschen durch das Blätterdach schimmert. Die moosig-erdig-würzige Luft. Die Kühle, der weiche Boden, die gedämpften Geräusche.

Nächste Aufgabe: All das wahrnehmen, mit allen Sinnen. Sehen. Dann hören. Mit geschlossenen Augen mitten im Wald stehen und lauschen. Schmecken, riechen, fühlen. Nasen werden an Bäume gedrückt, Finger im Laub vergraben. Christoph Wehner probiert ein winziges Pilzstück, verzieht das Gesicht und spuckt wieder aus. "Pilzschleim mit Knoblauch-Geschmack", sagt er und grinst. Einem Spaziergänger mag die Gruppe ohne Erklärung wohl ein lustiges Bild. Tatsächlich aber passiert beim Baden in Wald vor allem eines: Man wird ruhiger. Und sieht mehr.
"Ich gehe viel im Wald spazieren, aber eigentlich recht blind", sagt Wolfgang Franz, der sich mit seiner Frau ganz spontan entschieden hat, mitzubaden. Ohne Vorstellung davon, was ihn erwartet. Sein Fazit: "Das war entspannend". Auch wenn er nicht alles habe nachempfinden können – wie etwa, den Kontakt zu einem Baum herzustellen.

"Das wird immer belächelt", sagt Kirsten Zieher. "Bäume umarmen finden die Leute sehr amüsant." Humbug? "Es kommt ja darauf an, was in Kontakt treten meint", sagt Teilnehmerin Ramona Hoppichler. Vielleicht bedeutet es eine echte Umarmung. Vielleicht einfach nur, "sich an den Baum zu setzen und inne zu halten".
Warum aber soll das heilsam sein? Ist Waldbaden nicht nur eine gute Idee kreativer Tourismus- und Gesundheitsmanager, die vom Outdoor-Trend profitieren wollen?
"Für mich ist es eher ein Wiederentdecken oder Rückbesinnen", sagt Wehner. "Wir haben als Menschen einfach die allerlängste Zeit mit und im Wald verbracht." Gut ein Drittel der Fläche Deutschlands ist bewaldet. Wald ist Lebensraum für Tiere und Pflanzen, hier wächst der Rohstoff Holz. Seit einigen Jahren nun werden ihm Heilkräfte zugesprochen.
Warum? Was kann der Wald? Experten gehen davon aus, dass Walderlebnisse die psychische Stimmung verbessern, positive Emotionen wecken, Stress reduzieren und den Blutdruck senken können. Noch einige Wochen später zeige ein drei- bis vierstündiger Aufenthalt im Wald Wirkung, sagt Christoph Wehner. "Man schläft viel besser", sagt Kirsten Zieher. Wolfgang Franz bestätigt es nach der Premiere: "Abends waren wir völlig platt und haben es kaum noch aufs Sofa geschafft." Überraschend, so ganz ohne körperliche Anstrengung.
Waldbaden, das war vor gar nicht langer Zeit der Sonntagsausflug in den Wald, das geruhsame Picknick im Grünen oder der lockere Wanderausflug durch die Natur. Alles verlernt in nur 30 Jahren...
Ich habe nicht unbedingt schlechte, aber zwiespältige Erinnerungen an diese durchgetakteten Sonntage.
Jedoch "verlernt" habe ich in fünfzig Jahren nichts. Ich gehe durchaus noch gerne in den Wald. Kann mir aber aussuchen, mit wem und in welchem Tempo.
Warum sollen manche Menschen ihr Erleben nicht als "Waldbaden" bezeichnen dürfen?
Gehen die Kritiker alle noch zum Sport im Verein auf die Aschenbahn oder zahlen sie Unsummen für "Fitness"-Studios? Lesen sie noch jeden Abend ein "gutes Buch", oder sitzen sie vorm Fernseher?
Unsere Arbeitswelt verändert sich, die Schulzeit, auch unser Freizeitverhalten - unsere Gesellschaft. Das tut sie (glücklicherweise) seit Jahrtausenden.
Rom ist nicht wegen der Wasserrohre aus Blei zu Grunde gegangen sondern wegen der eigenen Dekadenz.Wenn Teile der Bevölkerung nicht mehr erkennen was der Wald bzw. die gesamte Natur uns bietet und In Rudeln unter Anleitung eins Försters sich der Natur wieder nähern müssen scheint es um unsere Bevölkerung schlimmer bestellt zu sein als viele glauben.Wegen der mir auferlegten Netiquette möchte ich mich mit ihrer geistigen Verarmung nicht weiter auseinandersetzen,Ihnen jedoch anraten weniger Bäume zu umarmen- geschweige zu besprechen und weiterhin zur Selbstfindung einen Töpferkurs an der VHS zu besuchen!