Eigentlich war es eine Art Belohnung: Weil die Würzburger Sozialdemokraten bei den Wahlen von 1912 erstmals ein Reichstags- und ein Landtagsmandat errungen hatten, wurde die Stadt als Tagungsort des nächsten SPD-Reichsparteitages bestimmt, der im September 1914 im Huttenschen Garten stattfinden sollte. Alles war vorbereitet, als der Erste Weltkrieg ausbrach und alle Pläne über den Haufen warf.
Kaiser Wilhelm II. verkündete zu Kriegsbeginn, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche, und in Berlin herrschte plötzlich ein „Burgfrieden“. Zahlreiche Mitglieder und Abgeordnete der SPD, die gut zwei Jahrzehnte zuvor noch verfolgt worden war, wollen im August 1914 ihren Patriotismus unter Beweis stellen.
Einer von ihnen war der SPD-Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank, eigentlich ein Vorkämpfer der deutsch-französischen Verständigung. Der 40-jährige meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst und fiel fünf Wochen nach Kriegsbeginn in Frankreich. Viele Sozialdemokraten betrachteten den Krieg als berechtigten Verteidigungskrieg gegen Russland, in dem der Zar das einfache Volk unterdrückte. Gleich zu Beginn rückten auch 1600 Würzburger SPD-Mitglieder ein; je länger der Krieg dauerte, desto mehr Genossen fielen oder kehrten als Krüppel zurück.
Vor diesem Hintergrund steuerten die lokalen Führungsgremien der Partei schon bald einen konsequenten Anti-Kriegs-Kurs, der die Würzburger Sozialdemokraten in scharfen Gegensatz zur Berliner Zentrale brachte.
Im Mittelpunkt standen die umstrittenen Kriegskredite, die immer aufs Neue die Fortsetzung der Kämpfe ermöglichten und auch von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion mit beschlossen wurden. Der Kampf um die Kredite führte letztlich zur Spaltung der SPD, denn auch in der Reichstagsfraktion gab es Männer – Frauen durften damals noch nicht wählen oder gewählt werden –, die den Krieg ablehnten.
Deutsche Truppen standen tief in Frankreich und die Russen waren aus Ostpreußen vertrieben. Wenn man keine Gebietserweiterungen wolle, könne man also Frieden schließen, dachten viele Sozialdemokraten in Würzburg und praktisch die gesamte Parteispitze der Bischofsstadt. Ihre Forderung: sofortige Beendigung des Krieges.
Im März 1915 übernahm der 23-jährige Curt Geyer aus Leipzig, ein Gegner der Kredite, die Chefredaktion der Würzburger SPD-Tageszeitung „Fränkischer Volksfreund“ und die Situation eskalierte. Am 22. Juni 1915 veröffentlichte Geyer einen Artikel von drei SPD-Spitzengenossen, in dem sie die Zustimmung zu weiteren Kriegskrediten als Zustimmung zu einem Eroberungskrieg werteten.
Im März 1916 wurden 20 Oppositionelle, die sich gegen die Kredite ausgesprochen hatten, aus der SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen; unter dem Namen „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft“ (SAG) gründeten sie eine eigene Fraktion.
Am 26. August 1916 sprach in Würzburg der Berliner SPD-Abgeordnete Gustav Hoch, der bei der letzten Kreditabstimmung im März mit 13 weiteren Genossen den Plenarsaal verlassen hatte, um dem Fraktionszwang, der Zustimmung befahl, zu entgehen. Unter lebhaftem Beifall der Versammlungsteilnehmer plädierte Hoch, der sich nicht der SAG angeschlossen hatte, für einen Frieden ohne Gebietserweiterungen. Annexionen würden bereits den Keim des nächsten Krieges in sich tragen, sagte er.
Solche Gebietserweiterungen forderten auch 1917 noch ultrakonservative Organisationen wie Alldeutscher Verband oder Vaterlandspartei; sie wollten besetzte Gebiete in Belgien, Nordfrankreich und im Osten unter deutsche Herrschaft zwingen. Ihre Vertreter seien bedenkenlose Kriegsverlängerer, die das Leben vieler Soldaten für ihre Eroberungsgelüste aufs Spiel setzen wollten, hieß es bei den Genossen am Main. Im Gegenzug wurden friedensbereite SPD-Mitglieder als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt.
Im April 1917 wandelte sich die SAG zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD), die kompromisslos gegen die Kredite kämpft. Während die Aschaffenburger Parteiorganisation der SPD geschlossen in die USPD überführt wurde, setzte der Buchhändler und führende Würzburger SPD-Denker Felix Freudenberger durch, dass der Würzburger Ortsverein auf dem linken Flügel der alten Partei verblieb.
Lediglich die SPD-Ortsvereine der unabhängigen Gemeinden Heidingsfeld und Randersacker spalteten sich im Juni 1917 von der SPD ab und traten mit einigen wenigen Parteimitgliedern aus der Stadt der USPD bei. Im Oktober war es endlich so weit, der verschobene Parteitag fand statt. Seit vier Jahren hatte es keine solche reichsweite Zusammenkunft der Sozialdemokraten mehr gegeben.
In der 1978 erschienenen Festschrift zum 110-jährigen Bestehen der Würzburger Sozialdemokratie sind Vorgeschichte und Ablauf des Parteitags ausführlich geschildert. Den Band gaben der langjährige Landtagsabgeordnete und heutige Würzburger Stadtrat Hans Werner Loew und der Geschichtsprofessor Klaus Schönhoven heraus.
Mitten im Krieg wurde Würzburg zum Schauplatz „eines der denkwürdigsten und eines der deprimierendsten Parteitage der deutschen Sozialdemokratie“, wie es Schönhoven ausdrückt. „Es liegt geschichtliche Tragik auf dieser Tagung“, schrieb die SPD-Tageszeitung „Fränkischer Volksfreund“ in einem großen Artikel noch bevor er begann. Der Krieg habe „unsagbares Leid besonders über die breiten Volksmassen gebracht“, hieß es weiter. „Schwere Wolken dumpfer Sorge lasten auf vielen Millionen Menschen.“
Ein Höhepunkt des Parteitags, den der SPD-Vorsitzende und spätere Reichspräsident Friedrich Ebert leitete, war eine öffentliche Volksversammlung am Sonntag, 14. Oktober, im überfüllten Huttenschen Garten. Die Galerien des großen Saales waren an diesem Vormittag mit rotem und weißem Tuch umspannt; hoch über der Bühne war das Wappen Frankens angebracht und auch die Fahne der Würzburger SPD war zu sehen.
Der Reichstagsabgeordnete Philipp Scheidemann, der später, am 9. November 1918, in Berlin von einem Balkon des Reichstagsgebäudes die Republik ausrief, sprach sich in dieser Versammlung für einen Frieden ohne Annexionen aus: „Jede gewaltsame Aneignung fremden Landes bedeutet einen neuen Krieg, weil heute kein Land ertragen kann, dass man es auf diese Weise vergewaltigt.“
Freilich müssten auch die territoriale Integrität Deutschlands und dessen wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten nach einem Verständigungsfrieden garantiert sein. Scheidemann traf damit die Stimmung der Zuhörer, die in ihrer großen Mehrheit vom Krieg mit seinen Entbehrungen nichts mehr wissen wollten.
Am Abend begannen am selben Ort die Parteitagsverhandlungen. Felix Freudenberger, als Magistratsrat einer von zwei Sozialdemokraten in der ersten Kammer des Würzburger Stadtrats, begrüßte die Delegierten und verwies auf Eroberungspolitiker auch in Würzburg. An der Spitze der Annexions-Bewegung stehe „der Direktor des größten Munitionsbetriebes“ der Stadt; Schuldirektoren, Lehrer und Beamte, die aufgrund ihres Alters nicht mehr eingezogen werden könnten, gäben „seinen willigen Chor ab“.
Wie nicht anders zu erwarten, entspann sich im Huttenschen Garten eine erbitterte Debatte um die Kriegskredite. Schließlich stimmten lediglich 26 Delegierte für einen Antrag, der die SPD-Reichstagsfraktion darauf festlegen sollte, keine weiteren Kredite zu bewilligen, solange die Reichsregierung sich nicht zu einem Frieden ohne Gebietserwerbungen bekannte.
Einer dieser Delegierten war Felix Freudenberger, der eine Resolution seines Ortsvereins vom 30. April 1917 vollzog. Frustriert mussten er und die anderen 25 Abweichler miterleben, wie der Antrag mit 257 Gegenstimmen unterging.
Zunächst erfolgreich waren die Würzburger Sozialdemokraten dagegen mit dem von ihnen eingebrachten Antrag, der Parteivorstand um Friedrich Ebert solle die Wiedervereinigung von SPD und USPD vorantreiben. Ein angenommener Zusatzantrag eines Bielefelder Delegierten machte dann jedoch die Hoffnung auf eine baldige Überwindung der Trennung illusorisch, da von der USPD praktisch die Unterwerfung unter die Politik des SPD-Parteivorstands verlangt wurde.
Im Rahmenprogramm des Parteitags ließ der Würzburger Stadttheater-Intendant Willy Stuhlfeld, ein SPD-Mitglied, eigens das Sozialdrama „Die im Schatten leben“ des Dichters und SPD-Reichstagsabgeordneten Emil Rosenow aufführen. Das 1899 entstandene naturalistische Theaterstück spielt im düsteren proletarischen Arbeitermilieu des westfälischen Kohlengebietes; es zeigt die Lebenswelt der Armen und Deklassierten und ihre verzweifelte Suche nach deren Überwindung.
Rosenow war schon 1904 im Alter von 32 Jahren gestorben, da war sein Stück noch verboten gewesen; die Uraufführung kam erst 1912 zustande. Fünf Jahre später entfaltete sich das Schicksal von Bergarbeiterfamilien auf der Bühne des Würzburger Stadttheaters und im Zuschauerraum saßen Sozialdemokraten aus dem ganzen Reich.
Nach dem Ende des für sie so enttäuschend verlaufenen Parteitags mussten die Würzburger Genossen miterleben, wie sich ihre Hoffnung auf einen Sinneswandel der Berliner Parteispitze und der SPD-Reichstagsfraktion immer wieder aufs Neue zerschlug. Bis in den Sommer 1918 hinein wurden weitere Kriegskredite mitbeschlossen.
Im März 2018 erscheint die Serie zum Ersten Weltkrieg, erweitert um zahlreiche Texte und Bilder, als Main-Post-Buch.