Das Ambiente konnte kaum gediegener sein. Der große Saal des "Harmonie"-Gebäudes am Würzburger Paradeplatz besaß eine prächtige Akustik und einen Fries, der Orpheus zeigte, den Sänger und Dichter der griechischen Mythologie. Die "Harmonie" war ein Kulturverein des gehobenen Bürgertums; die Mitglieder trafen sich in ihrem Haus zu Konzerten, Vorträgen und Bällen oder zum Essen im angeschlossenen Restaurant.
Am 25. Mai 1922, dem Fest Christi Himmelfahrt, wollten die Ausführungen des Redners nicht zum edlen Saal und schon gar nicht zum Namen "Harmonie" passen. Ein besonders fanatischer Antidemokrat, der Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, Alfred Roth aus Hamburg, hetzte an diesem Tag gegen Reichsaußenminister Walther Rathenau.
Denunziert in hasserfüllten Reden: Walther Rathenau nach dem Vertrag von Rapallo
Dieser hatte in Rapallo gerade einen Vertrag mit der Sowjetunion abgeschlossen, der unter anderem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und den Verzicht auf den Ersatz von Kriegskosten und Zivilschäden beider Länder beinhaltete. "Der Außenminister und Jude Walther Rathenau arbeite bewusst mit Lüge gegen die deutsche Sache", erklärte Roth laut einem Bericht der Würzburger SPD-Tageszeitung Fränkischer Volksfreund. Rathenau betrachte sich "zweifellos als den bolschewistischen Agitator für Deutschland".
Überall im Reich wurden damals solche hasserfüllten Reden gehalten, in denen der bürgerlich-liberale Politiker Walther Rathenau, Sohn des Gründers der AEG, als Agent des Kommunismus hingestellt wurde. Einen Monat später, am 24. Juni 1922, ermordeten Rechtsradikale den als "Erfüllungspolitiker" gebrandmarkte Rathenau in der Nähe seines Hauses in Berlin-Wannsee.
Als Erfüllungspolitik denunzierten die Völkischen jeden Versuch der Berliner Regierung, die harten Bedingungen des Versailler Friedensvertrages zu erfüllen und mit den Nachbarn Deutschlands friedlich zusammenzuleben. Die rechte Propaganda forderte stattdessen eine Politik der Stärke und des Widerstandes und predigte unablässig den Revanchekrieg.
Völkische Bewegung und rechte Propaganda
Die völkische Bewegung der Weimarer Republik bestand in den Anfangsjahren aus vielen miteinander konkurrierende Gruppen. Einigendes Band war die Idee eines von allen Beimischungen "gereinigten" deutschen Volkes. Die Völkischen teilten die Welt in zwei streng voneinander zu scheidende Hälften: das Eigene und das Fremde, das (gute) Nationale und das (schlechte, "verjudete") Internationale.
Daraus ergaben sich Forderungen wie die Reinerhaltung des deutschen Blutes durch "Rassenhygiene", zum Beispiel Zwangssterilisationen, die Pflege "artgemäßer" und deutsches Wesen verherrlichender Kunst oder die Abkehr vom westlichen Parlamentarismus und Liberalismus. Juden galten als Verkörperung von allem, was die Völkischen ablehnten und verachteten.
Die Propaganda fiel bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden, denn die Lage nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg war aufgewühlt. Das Reich musste im Vertrag von Versailles die Alleinschuld am Kriegsausbruch anerkennen. Darüber hinaus verlor Deutschland seine Kolonien und Gebiete wie Elsass und Lothringen und hatte astronomisch hohe Reparationen zu zahlen. Die schon im Krieg losgetretene Inflation geriet außer Kontrolle, es fehlten Wohnung und die Arbeitslosenzahlen stiegen.
Sündenbock gesucht und gefunden: die deutschen Juden
Das war ein ganz anderes Bild, als es dem Volk vier Jahre lang vorgegaukelt worden war. Die Gegner sollten nach dem Sieg die deutschen Kriegskosten ersetzen, Provinzen abgeben und sich Deutschland politisch und wirtschaftlich unterordnen, hatte es geheißen.
Die konservativen Eliten, die bis zum November 1918 an der Macht gewesen waren, stahlen sich aus der Verantwortung. Als Sündenbock diente ihnen unter anderem jenes knappe eine Prozent der deutschen Bevölkerung, das seit dem Mittelalter immer wieder den schwarzen Peter zugespielt bekam, wenn etwas schief lief: die deutschen Juden.
Anstelle der von der Revolution hinweggefegten deutschen Fürsten regierten jetzt in vielen deutschen Ländern und auch in Berlin Sozialdemokraten mit. Erstmals waren Juden in bedeutende und sichtbare Führungspositionen aufgestiegen – in Würzburg zum Beispiel der Buchhändler und SPD-Politiker Felix Freudenberger, der nunmehrige vierte Bürgermeister.
Die Reaktionäre fackelten nicht. Im Februar 1919 wurde der sozialistische bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, ein Jude, ermordet. Als Walther Rathenau im Februar 1922 sein Amt antrat, richtete sich der Hass der Rechten vor allem gegen ihn.
Flugblätter, Handzettel, Gründung von Ortsgruppen: Rechtsradikale Propaganda in Unterfranken seit 1919
Die Verantwortlichen der Harmonie-Gesellschaft, die auch ihr Nebenzimmer dem Schutz- und Trutzbund gern vermieteten, wussten genau wes Geistes Kind die Schutzbündler waren. Seit Ende 1919 hatten sie Würzburg und andere unterfränkische Kommunen mit rechtsradikaler und antisemitischer Propaganda überschwemmt. Im April 1919 war der Bund mit Ortsgruppen außer in Würzburg bereits in Aschaffenburg, Schweinfurt, Marktbreit und Ochsenfurt vertreten. 1920 brachte die Organisation im Reich 7,6 Millionen Flugblätter, 4,8 Millionen Handzettel und 7,9 Millionen Klebezettel heraus.
In Anzeigen in Würzburger Tageszeitungen forderte der Bund "die Entfernung aller Juden aus der Regierung" und aller jüdischen Schüler und Lehrer aus Gymnasien und Universitäten sowie das Verbot, Stücke jüdischer Autoren aufzuführen. Eine entsprechende, mit einem Hakenkreuz versehene Anzeige erschien am 24. Februar 1920 im Fränkischen Volksblatt – übrigens genau an jenem Tag, an dem Adolf Hitler in München das Programm der jungen NSDAP vorstellte, das ganz ähnliche Forderungen enthielt.
Eine Woche vorher hatte der antisemitische Agitator Richard Kunze in einer Massenversammlung vor völkischen Studierenden im Huttenschen Garten gefordert, die Berliner Regierung müsse "zum Teufel gejagt" werden, denn sie nehme "nicht die Interessen der Deutschen, sondern der Juden" wahr.
Völkisches Gedankengut unter Würzburger Studenten weit verbreitet
Die Studenten und die Korporationen, in denen die meisten von ihnen damals organisiert waren, öffneten sich besonders bereitwillig der Propaganda. Tatsächlich erlangte in keiner Würzburger Institution in den Weimarer Jahren rechtsradikales und völkisches Gedankengut so weite Verbreitung wie an der Julius-Maximilians-Universität. Im Jahr 1921 gehörten alle Verbindungen außer den jüdischen, seien sie nun farbentragend, schlagend, katholisch oder überkonfessionell, einem völkisch-antisemitischen Dachverband, dem "Hochschulring Deutscher Art" an.
Zu dieser Zeit führten alle Korporationen, die vorher auch Juden offengestanden hatten, den „Arierparagraphen“ bei Neuaufnahmen ein, das heißt es gab keine zusätzlichen jüdischen Mitglieder. Schlagende Verbindungen gaben Juden keine Satisfaktion mehr; Juden konnten sich also nicht mehr im Rahmen des damals sehr ernst genommenen studentischen Komments gegen Beleidigungen verteidigen.
Im März 1921 schrieb der Würzburger jüdische Student Hugo Kern über den entsprechenden Beschluss des Deutschen Waffenrings, darin liege die Behauptung, dass jüdische Studenten keine Ehre hätten und also gar nicht beleidigt werden könnten, dass sie "in ihrer Gesamtheit als eine inferiore Spezies betrachtet" würden. Kern sah die Zukunft klarsichtig: "Von der Entfremdung zur Entrechtung führt nur ein kurzer Schritt."
Rechtsradikales Gedankengut war nicht auf den Schutz- und Trutzbund und die Studentenschaft beschränkt. So setzte die katholische Bayerische Volkspartei (BVP) in ihrem Würzburger Organ, dem Fränkischen Volksblatt, in der Anfangsphase der Weimarer Republik häufig "Judentum", "Revolution" und "Zersetzung" gleich. "Die wahren Besieger Deutschlands sind nicht die Franzosen, Engländer und Amerikaner", schrieb das Volksblatt Ende 1918, von ihnen allen herrsche niemand so unumschränkt "wie das Judentum". Später wandelte sich das Volksblatt und wurde wie die BVP zu einem Verteidiger der Republik und der Juden.
Ein Mord als "befreiende Tat"
Radikalste unter den bürgerlichen Parteien war die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Im Januar 1921 brachte der Würzburger Geschichtsprofessor Julius Kaerst, eine bekannte Persönlichkeit in der völkischen Szene der Stadt, die deutschnationalen Erwartungen im Huttenschen Garten auf den Punkt: "Es regt sich im Volke, der nationale Zug erwacht und die Sehnsucht nach dem Führer und die Hoffnung besteht, dass die große befreiende Tat zum Wiederaufstieg nicht mehr fern ist."
Der Mord an Walther Rathenau war in den Augen vieler eine solch befreiende Tat. Die Täter aus der rechtsextremen "Organisation Consul" (OC) hatten enge Kontakte zum Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund unterhalten. Durch das nach dem Mord erlassene Republikschutzgesetz wurde der Bund in den meisten Ländern Deutschlands, nicht aber in Bayern, verboten.
Geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus
Auch hier hatte der wichtigste geistige Wegbereiter des Nationalsozialismus freilich seinen Zenit bereits überschritten. Überall formierte sich die NSDAP, die in vieler Hinsicht die Nachfolge des Bundes antrat. Am 6. Dezember 1922 entstand die Würzburger Ortsgruppe; in Kitzingen existierte eine solche Gruppe schon seit 1921.
Im Jahr 1928 tat Alfred Roth, der langjährige Hauptgeschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes einen logischen Schritt; er trat der NSDAP bei.
Rathenau war übrigens nicht das einzige Opfer der Organisation Consul, die aus der Marine-Brigade Ehrhardt hervorging. Auch das Attentat auf Erzberger (Zentrum) und Gareis (USPD) gehen auf das Konto der OC sowie der mißglückte Mordversuch an Scheidemann (SPD).