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WÜRZBURG
Von Ün, Schlier, Neckermann und Pfeiffer: Familiengeschichte als Mini-Drama
Café Rewue: Wie ist es, die eigene Familiengeschichte im Mainfranken Theater zu sehen? Ein Gespräch im Café.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:40 Uhr

Neckermann und Ruschkewitz, Schlier, Freier und Zeitler – in „Café Rewue“, derzeit im Mainfranken Theater zu sehen, reihen sich bekannte Würzburger Namen und ihre Geschichten. Schauspieldramaturgin Wiebke Melle hat viele Interviews geführt und in historischen Dokumenten nach Anekdoten gesucht. Eine Episoden aus dem Reigen: Der Steinmetz Philipp Pfeiffer kämpft im Ersten Weltkrieg, verliert seine Verlobte an Tuberkulose, heiratet in die Familie von Papier Schmitt in der Sanderstraße ein und bekommt nach 1945 wegen NSDAP-Zugehörigkeit die Lizenz für sein Papierwarenladen entzogen. Eine andere: Der anatolische Schneider Alexander Ün kommt in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Würzburg, verliebt sich in die Frau auf einem Foto und und wird erst nach vielen, vielen Jahren eingebürgert. Wie ist es eigentlich, die eigene Familiengeschichte auf der Bühne zu sehen? Ein Treffen mit Alexander und Janet Ün, der Tochter von Philipp Pfeiffer und Autorin Wiebke Melle – natürlich dem Anlass gemäß im Kaffeehaus.



Frage: Frau Ün, wie ist es, den eigenen Mann als Casanova der Bühne zu sehen?

Janet Ün: Oh je. Naja, die Mädchen wollten ihn halt gewinnen. Das war schon so: Die Frauen haben ihn vergöttert, er war ein hübscher Kerl. Aber er hat gesagt: Ich will Janet! Doch, doch, das ist sehr schön.

Herr Ün, wie gefallen Sie sich auf der Bühne?

Alexander Ün: Sehr gut. Der Schauspieler spielt sehr gut. Unseren Kindern hat das auch gut gefallen.

Sie meinen Alexander Hetterle. Also nichts übertrieben, nichts überzeichnet?

Ün: Nein, es ist halt ein bisschen kurz, unsere Episode könnte länger sein. Von unserem Lebenslauf ist wenig drin. Es geht eben vor allem um die Einbürgerung. Das war langwierig und schwierig, der Mann im Rathaus wollte uns nicht haben und hat uns immer wieder vorgeladen.

Frau Melle, wie kamen sie denn auf die Geschichte der Üns?

Wiebke Melle: Ich bin über Carl Schlier auf die Üns gestoßen. Der erste Ansatz war, Unternehmen zu suchen, die schon lange hier vor Ort sind und bei denen sich Familien- und Stadtgeschichte gegenseitig spiegeln. Einer der ersten Gesprächspartner war Carl Schlier. Er erzählte auch von Severin und wie Modegeschäfte früher gearbeitet haben.

Und da kamen wir auf die Änderungsschneidereien und Herrn Ün. Ein Name, an dem man nicht vorbei kommt. Und als die Üns erzählt haben, dass sie jeden Samstagnachmittag im Café Michel sitzen, der Institution schlechthin, kam das Kaffeehaus ins Spiel.

Ach so? Die Ursprungsidee war gar nicht, eine Kaffeehaus-Revue zu machen?

Melle: Genau. Ursprüngliche Idee unseres Schauspieldirektors Stephan Suschke war, gerade in Würzburg, wo man so wenig Industrie hat und kennt, nach Unternehmen zu forschen und theatral aufzuwerten. Natürlich interessieren einen dann doch die Menschen hinter den Firmen und Geschäften. Das Tolle war dann, dass alle Geschichten unserer Gesprächspartner immer mit einem Stück deutscher Geschichte verbunden waren.

So wie die vom Papierwarenladen Pfeiffer. Ein stattliches Stück Geschichte.

Rosemarie Bienek-Pfeiffer: Ja, vor zwei Jahren sind wir 100 geworden.

Wie finden sie denn Ihre Familiengeschichte auf der Bühne erzählt?

Bienek-Pfeiffer: Sehr gut! Ich habe ja gar nicht gewusst, was auf der Bühne passieren wird. Aber wenn der Name Philipp Pfeiffer kommt – das ist dann schon emotional. Die Kriegserlebnisse meines Vaters, wie er meine Mutter kennengelernt hat . . . Toll gespielt.

Das ist ja keine einfache Geschichte. Philipp Pfeiffer war in der NSDAP, nach dem Krieg durfte er das Geschäft nicht selbst weiterführen . . .

Melle: Wir wollten auf keinen Fall den moralischen Zeigefinger erheben, sondern differenzieren. Philipp Pfeiffer hat während des Krieges jüdische Mitbürger zum Essen eingeladen und jüdische Altenheime mit Zeitungen versorgt. Natürlich kann man so was nur begrenzt auf der Bühne darstellen.

Bienek-Pfeiffer: Mich hat das als Kind immer mit belastet. Wir hatten zuhause jüdische Gäste, aber mein Vater hat immer gesagt: Erzähl‘ ja nichts in der Schule! Wenn das jemand erfährt, muss ich weg.

Frau Melle, wie haben Sie die Episoden gefunden? Wie sind Sie vorgegangen?

Melle: Es gab tatsächlich nur ein Gespräch mit jeder Familie. Zu dem Zeitpunkt, als wir die Interviews führten, wussten wir noch gar nicht, wie das Stück später aussehen wird. Dass aus unserem Gespräch tatsächlich ein Bühnenwerk wird, das war für die meisten Zeitzeugen wohl doch auch vage und in weiter Ferne. Umso mehr haben mich die Offenheit und das Vertrauen mir gegenüber beeindruckt. Dann wurde erst einmal schrecklich viel transkribiert. Die Frage war: Wie lassen sich all diese Familien- und Lebensgeschichten ansatzweise vorstellen und – bei aller Geschichtsträchtigkeit – unterhaltsam bündeln? So kam es zur Revue-Form. Das Café bot die Möglichkeit, dass immer wieder Leute kommen und gehen.

Unterhaltsam ist?s, stimmt.

Bienek-Pfeiffer: Ich hab bei meinen Bekannten viel Reklame gemacht und gesagt, ihr müsst als Würzburger reingehen! Ihr müsst Euch das anschauen. Und was ich bisher an Resonanz bekommen haben: Wer drin war, hat es nicht bereut.

Melle: Der Arbeitsauftrag von Stephan Suschke war: Versuche Mini-Dramen zu entwickeln, für jedes Jahrzehnt einen wesentlichen Bogen zu erzählen, der auch ein bisschen was fürs Herz oder zum Lachen hat. Solch eine Geschichte wie von Philipp Pfeiffer, der nach dem Ersten Weltkrieg das Mädchen sucht, das ihm Feldpostbriefe geschrieben hatte – klar, die muss erzählt werden. Das Schöne war, dass so langansässige Unternehmen wie zum Beispiel Ebert&Jacobi viele Ansatzpunkte bieten. An dem Würzburger Medikamentengroßhandel und der Familie Schüller lässt sich gut der Wandel der Zeit ablesen: Großvater Ludwig in Weimarer Republik als arbeitsloser Soldat, Ralph als Jungunternehmer zu Wendezeiten. Es waren so viele erzählenswerte Zufallsfunde . . .

So wie die der Üns. Allein wie Sie sich „kennengelernt“ haben . . .

Janet Ün: Mein Mann war damals mit meinem Bruder befreundet, sie haben in Würzburg in derselben Firma gearbeitet. Er hat ein Bild von mir gesehen – und war verliebt. Er hat seinen Chef gebeten, mich über das Arbeitsamt anzuwerben. Also bin ich aus der Türkei zum Arbeiten hierhergekommen, 1966 mit dem Balkanexpress. Und hab nicht im Traum an Heiraten gedacht! Aber nach zehn Tagen war ich verlobt . . .

Mit Blick auf die Zuschauer – für wen ist Café Rewue gedacht?

Melle: Für Alt und Jung. Ist bei Studenten genauso nachgefragt wie bei alteingesessenen Würzburgern, die einen Teil der Geschichte miterlebt haben. Es ist natürlich etwas heikel: Das Regieteam besteht ausschließlich aus Nicht-Würzburgern. Von Beginn an war klar für uns: Wir dürfen uns nicht erheben und dürfen den Würzburgern nicht erzählen, „wie sie so sind“.

Okay, aber hier im Café Michel, verraten Sie doch mal mit Blick von außen: Wie sind sie denn so, die Würzburger? Was ist typisch?

Melle: Es gibt ein gesundes Heimatbewusstsein. Und es gibt eine Verteidigungshaltung, wenn es um Neuerungen geht: Man ist besorgt, fragt, was passiert mit unserer Stadt? Das Klischee, vor dem mich alle gewarnt haben, der Franke sei mürrisch und Fremden gegenüber knorrig oder ablehnend – das hab ich jedenfalls nie wahrgenommen.

Ün: Nein, das Klischee stimmt nicht. Alle Würzburger waren immer hilfsbereit und freundlich uns gegenüber, bis heute. Wir wollten von Anfang an hier bleiben.

Frau Melle, Zeitmaschinen-Frage: In welchem Würzburger Jahrzehnt würden Sie denn gerne mal ein paar Tage selbst mit(er)leben?

Melle: Früher hätte ich wahrscheinlich gesagt, in den Zwanzigern, in den goldenen. Aber diese Phase des Aufschwungs nach dem Krieg, die 50er, 60er – das interessiert mich wegen des Neubeginns. Und die viele Reibung, das Aufeinanderprallen, die Auseinandersetzungen in den 60er, 70ern – das fehlt mir heute oft, wo alles glatt ist und der Deckmantel über wichtigen Themen liegt. Aber ehrlich gesagt: Jedes Jahrzehnt hat etwas Packendes!

Bienek-Pfeiffer: Wie kamen Sie eigentlich auf den Bischof Döpfner als Elvis?

Melle: Von Beginn an war klar: Wir müssen die Kirche vorkommen lassen. Aber wir wussten lange nicht wie. Über Döpfner und ihn als charismatische Figur war bei der Recherche einfach am meisten zu finden. Darüber, wie volksnah er war und wie er sich in der Nachkriegszeit für die Würzburger eingesetzt hat. Um diese Mischung aus Aufbruch und Versöhnung musikalisch zu spiegeln, kamen wir dann darauf, ihn als Elvis für gute Stimmung sorgen zu lassen.

Weitere Vorstellungen von Café Revue sind am 3., 5., 12. und 22. Juli, jeweils um 19.30 Uhr. Karten: Tel. (0931) 3908-124, per Mail: karten@theaterwuerzburg.de

Von Frauen flankiert: Alexander Hetterle als Gastarbeiter Alexander Ün in „Café Revue“ im Mainfranken Theater.
Foto: Thomas Obermeier | Von Frauen flankiert: Alexander Hetterle als Gastarbeiter Alexander Ün in „Café Revue“ im Mainfranken Theater.
Kaffeehaus-Treffen zu Café Rewue: Autorin und Schauspieldramaturgin Wiebke Melle, Alexander und Janet Ün und Rosemarie Bienek-Pfeiffer.THOMAS OBERMEIER
Foto: Foto: | Kaffeehaus-Treffen zu Café Rewue: Autorin und Schauspieldramaturgin Wiebke Melle, Alexander und Janet Ün und Rosemarie Bienek-Pfeiffer.THOMAS OBERMEIER
 
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