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KIRCHHEIM
Von Kiri zur Berliner Mauer
Plötzlich war die Grenze offen, auf der Mauer steppte der Bär. Spontan entschieden sich vier junge Kirchheimer, dass sie dabei sein wollen. So wurden sie über Nacht „die Berliner“.
Vor 25 Jahren: Helmut Wolz, Sabine Schuhmann, Robert Dürr und Karl-Hermann Schwarz am Brandenburger Tor.
Foto: privat | Vor 25 Jahren: Helmut Wolz, Sabine Schuhmann, Robert Dürr und Karl-Hermann Schwarz am Brandenburger Tor.
Christian Ammon
 |  aktualisiert: 07.11.2014 10:09 Uhr

Es ist der 9. November 1989. Ein Donnerstag. Karl-Hermann Schwarz, Robert Dürr und Helmut Wolz sitzen in ihrer Stammkneipe, der Pizzeria Lurisia, bei einem Glas Bier. Es gibt nur ein Thema: den Fall der Berliner Mauer. Nach der folgenschweren Pressekonferenz von Politbüromitglied Günter Schabowski war plötzlich die Grenze offen. Die drei Kirchheimer hatten die Ereignisse aufmerksam im Radio verfolgt. Und fassten spontan einen Entschluss: Sie wollten dabei sein.

Es ist 23 Uhr. Noch ist der 9. November nicht rum. „In Berlin wird Geschichte gemacht und wir sitzen hier herum!“ Es folgt, was folgen muss: Einer schlägt vor, keine Zeit zu verlieren. Nach Berlin soll es gehen! Keiner will der Spielverderber sein. Aus der Bierlaune am Stammtisch wird Ernst. Der Nächste der in die Kneipe kommt, soll fahren. Es trifft Sabine Schuhmann, damals noch Düll, die gerade frisch den Führerschein hat. Sie ist die Vierte im Bunde: „Meiner Tochter würde ich so etwas nicht erlauben“, ist sie heute selber verwundert über ihre Spontanität von damals.

Das abenteuerlustige Quartett steigt in den 5er BMW von Robert Dürr. Der ist weiß und hat schwarze Streifen. Cool damals. Auf dem 600 Kilometer langen Weg „nach drüben“ erleben die Freunde geradezu malerische Szenen: Eingeprägt haben sich endlose Lichterketten im dichten Morgennebel auf einem Hügel im Vogtland, die von den Trabbis auf dem Weg in den Westen stammen. An der Grenze selber freilich vergeht den Wessis jede romantische Stimmung. Auf einen Stempel im Pass verzichten die Grenzer zwar, doch noch gibt es Kontrollen, die Soldaten tragen militärische Uniformen, die Kalaschnikow stets an der Seite.

Um halb Sieben ist es geschafft: Das Grüppchen steht mitten in der geteilten Stadt auf dem Kudamm, es geht weiter mit dem Doppelstöcker-Bus zum Potsdamer Platz, vorbei an endlosen Schlangen, in denen die DDR-Bürger für Begrüßungsgeld anstehen. Dort ist bereits die Hölle los: Menschenmassen haben sich versammelt, ein breites Loch klafft im „antifaschistischen Schutzwall“.

Einer ist besonders vorwitzig: Robert Dürr, heute Gemeinderat aus Leidenschaft, zögert nicht lange und schlupft durch die Mauer. Als er zurückkommt, erntet er den Jubel der Menge: „Es waren Tausende“, schildert er. „Das war ein ungeheures Gefühl.“

In klirrender Kälte macht die Schnapsflasche die Runde, auch die Grenzen zwischen den Menschen fallen. Mit vier jungen Leuten aus Wittenberg verstehen sich die vier Kirchheimer auf Anhieb: einer ist Bierkutscher, einer Totengräber mit Haaren bis auf die Schultern, ein Ehepaar will in seiner Datscha eine Gaststätte eröffnen. Alle hatten sie die gleiche Idee: „Wir dachten, da in Berlin tanzt der Bär“, erinnern sie sich.

Die Ossis erweisen sich zudem als bestens informiert, dass sie hinter dem Eisernen Vorhang aufgewachsen sind, gefangen im eigenen Land, ist kaum zu spüren: Es geht um die neuesten Trends in der Unterhaltungselektronik, die Unterschiede in der Videotechnik und Filme. „Die haben über alles Bescheid gewusst.“ Das Westfernsehen war der deutschen Einheit vorausgeeilt.

Später lernen die Freunde auch andere Seiten des Lebens in der DDR kennen: So erinnert sich Karl-Hermann Schwarz, dass er bei einem späteren Besuch vor dem Ausgehen duschen wollte: „Nee, geht nicht, das geht erst morgen“, bekam er zu hören. Badetag war nur einmal in der Woche. Um das Wasser zu erhitzen, musste ein Ofen angeschürt werden. „Das war bei uns vor einigen Jahrzehnten so“, schmunzelt er. Und ein Sack Zement wurde drüben „gehütet wie ein Schatz“. Noch am Nachmittag geht es zurück nach Unterfranken: Abends um halb Zehn treffen die Vier wieder in der Pizzeria ein. „Wir sind mit stolz erhobenem Haupt einmarschiert.“ Als Beweis Berliner Zeitungen unterm Arm. Kein Wunder, dass sie in Kirchheim lange nur „die Berliner“ genannt wurden.

25 Jahre später: Sabine Schuhmann, Karl-Hermann Schwarz, Robert Dürr und Helmut Wolz in ihrem Stammlokal. Hier wurde die Idee zum Berlin-Trip geboren.
Foto: Christian Ammon | 25 Jahre später: Sabine Schuhmann, Karl-Hermann Schwarz, Robert Dürr und Helmut Wolz in ihrem Stammlokal. Hier wurde die Idee zum Berlin-Trip geboren.
 
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