Der klassische Männerchor hat es schwer. Deutschlandweit sind in den vergangenen Jahren Hunderte solcher Traditionschöre verschwunden. Was jedoch nicht heißt, dass Chöre nicht mehr „in“ wären. „Ganz im Gegenteil!“, sagt Lena Fuchs vom 30-köpfigen Würzburger „JA!zzchor“. Überall entstehen neue Chöre und neue Chorformen von und für junge Leute. Schon Jugendliche finden es „echt cool“, im Chor zu singen. Was Gründe hat: Die Medien, so beobachtet es Lena Fuchs, weckten in jüngerer Zeit Lust und Neugier.
Alles habe vor sechs Jahren mit „Pitch perfect“ begonnen. Im Mittelpunkt der Musicalkomödie steht ein A-cappella-Team, das nach einem blamablen Auftritt fast sämtliche Mitglieder verliert. Gezwungenermaßen werden nun unangepasste Außenseiterinnen wie die ausgeflippte Beca aufgenommen. Die steht auf Techno und HipHop – und bringt ihre Leidenschaft in die Truppe ein. Fast zeitgleich wurden in Deutschland die ersten von 121 Episoden der US-Serie „Glee“ ausgestrahlt, die sich um einen fiktiven Highschool-Club dreht. Mit einem Show-Chor als Herzstück.
Im Internet gesucht
Die neue Lust am Singen sei aber auch darauf zurückzuführen, dass es seit einigen Jahren moderne Chorliteratur gibt, sagt Lena Fuchs. Da fällt es den Chören leicht, Jazz, Gospels, Musicals oder Popsongs einzustudieren. Auch Carolin Heine, die im Januar nach Würzburg kam, suchte im Internet bewusst nach einem Jazzchor in ihrer neuen Heimat. Das bestand sie mit Bravour. Nun übt sie seit Wochen mit den anderen für die nächsten Konzerte des JA!zzchors – am kommenden Wochenende in Würzburg und Lohr.
Mathias Truschel kam vor eineinhalb Jahren zum JA!zzchor. Vorher hatte er lange alleine daheim vor sich hin geklimpert: Der 35-jährige Jurist spielt Klavier und Gitarre. Mehrere Anläufe, in Bands zu spielen, gab er wieder auf: „Das Problem ist, dass es dort keinen Chef gibt.“
Jeder wolle etwas anderes, sich abzustimmen sei manchmal einfach nicht möglich gewesen. Im Chor erlebe er das nun völlig andres, erzählt Truschel. Chefin Franny Fuchs fordert ihre Leute zwar stark. Doch es sei gleichzeitig ein unheimlich schönes Gefühl, mitzuerleben, wie ein komplexes Stück, von dem man am Anfang gar nicht glauben kann, dass man es jemals würde singen können, nach und nach als Gemeinschaftswerk entsteht.
Sein Sängerkollege Sven Jörissen spricht, wenn er vom JA!zzchor erzählt, gar von „emotionalen Höhenflügen“, „Flow-Feeling“ und „Gänsehautmomenten“.
Vor gut drei Jahren ließ sich der Informatiker auf das Abenteuer Chorgesang ein. Das sei ein super Ausgleich zur beruflichen Bildschirmarbeit, erzählt der Uni-Mitarbeiter und hört seine Mitsänger kichern: „Echt wahr?“ Denn auch bei den JA!zzchor-Proben wird neuerdings auf einen Bildschirm geguckt, ist man doch zu virtuellen Notenblättern auf Tablets übergegangen.
„Chorsingen ist bei jungen Leuten ein Hype“, bestätigt der Würzburger Musikforscher Friedhelm Brusniak. Vor allem Studenten hätten große Freude daran, gemeinsam zu singen. Allerorten entstehen deshalb neue Chöre – und singen dann meist nicht mehr das traditionelle Liedgut: „Sondern auch Pop- und Rocksongs oder Gospels.“
Die Szene hat sich für die Vielfalt neu geöffnet. Alte Vorstellungen, was Chorgesang zu sein hat, wurden über Bord geworfen, Dämme brachen auf. Man pocht, so Brusniaks Beobachtung, heute nicht mehr darauf, dass Chorgesang etwas mit deutschen Volksliedern oder Klassik a la Bruckner zu tun haben muss: „Die junge Generation geht eigene Wege.“
Junge Leute singen auch nicht mehr nur in „festen“ Chören. Alternative Formen wie Kneipenchöre, erleben starken Zulauf. „Inzwischen gibt es sogar Chorflashmobs“, sagt Brusniak, der sich mit dieser Form gerade näher beschäftigt. Vorangetrieben wird die Entwicklung, sagt der Musikforscher, vor allem von jungen Frauen. Bei denen stehe Kultur wieder hoch im Kurs, das Chorsingen rangiere bei ihnen als Freizeitvergnügen ganz vorne: Singen statt Fußball!
Alte Vorstellungen über Bord geworfen
Brusniaks Fußball-Vergleich trifft bei Andrea Balzer, Künstlerische Leiterin der „Jungen Stimmen Schweinfurt“, ins Schwarze. Sängerinnen und Sänger verstünden sich nicht als gegenseitige Konkurrenz: „Wir feuern uns gegenseitig an und haben Spaß dabei.“
Dass der Chorgesang weibliche Domäne ist, bestätigt Wolfgang Russ, Vorsitzender der Kissinger Sängervereinigung: „Von rund 55 Sängerinnen und Sängern sind zwei Drittel Frauen.“ Martina Ruckdeschel gehört mit 32 Jahren zu den jüngsten. Sie hört zwar privat keine klassische Musik, hat sich aber bewusst für die Sängervereinigung entschieden: „Ich finde, dass klassische Musik viel größere Herausforderungen bietet als Popsongs.“
Im neu gegründeten Jugendchor „Chorisma“ der Sängervereinigung stehen dagegen poppige Songs auf dem Programm. Sangesfreudige junge Leute zwischen zwölf und 23 Jahren singen mit. Und wer zum Beispiel zum Studieren aus Bad Kissingen wegzieht, versucht, trotzdem Kontakt zum Chor zu halten. „Einige lassen sich Noten und Audios der Lieder schicken und sind in den Semesterferien und bei Auftritten dabei“, erzählt Chorleiterin Antje Kopp.
Maren Thore gehört zu jenen jungen Frauen, an die Friedhelm Brusniak denkt, wenn er über die neue Lust am Chorsingen spricht. Die 30-jährige Ingenieurin singt seit September im Schweinfurter Thalia-Chor. Also Pop- und Rocksongs, Musicals und Filmmusik: „Davor habe ich in Aachen im Studentenchor vor allem klassische Stücke gesungen.“
Wegen des Jobs zog die Elektrotechnikerin an den Main und wollte einmal einen anderen Chor kennenlernen. So landete sie bei Thalia, der unter der Leitung von Monika Oser aus Bad Königshofen die Zuhörer mit modernen Arrangements begeistert.
Während der Schulzeit lernte Maren Thore Querflöte, zu Hause sang sie mit der Mutter und der Schwester klassische Kinderlieder und weihnachtliche Evergreens. Zu Hause trällere sie oft vor sich hin. Aber das, sagt die Technikerin, sei nur eine „Notlösung“: „Im Chor kann man zusammen etwas zum Klingen bringen, was man alleine nicht schafft.“ Klasse findet sie, durch den Chor Leute zu treffen, die sie, die sich viel in „technischen Kreisen“ bewegt, sonst kaum kennenlernen würde. Zum Beispiel eine Krankenschwester, einen Arzt oder eine Buchhändlerin.
„Immer, wenn ich gerade nicht studiere, singe ich im Chor“, meint Paula Kaiser, die sich im Vocalensemble Würzburg engagiert. Kaisers Tage sind von Musik umspült, es gibt nur wenige Stunden, in denen sie nicht von Klängen umgeben ist. Die 22-Jährige studiert an der Würzburger Musikhochschule und lebt ihre ausgeprägte Leidenschaft für das Chorsingen nicht nur im Vocalensemble aus: „Ich leite selbst zwei Chöre und singe am Wochenende in zwei Projektchören mit.“
Im Singkreis der Turngemeinde Höchberg, den Paula Kaiser leitet, sind hauptsächlich Rentner dabei, Junge schauen kaum vorbei. Aber das sei weder tragisch noch verwunderlich, findet Kaiser: „Viele singen am liebsten mit Menschen der eigenen Altersklasse.“
Konkurrenz von Vereinen
Ausnahmen bestätigen die Regel: Beim Kirchenchor der Pfarreiengemeinschaft St. Georg in Bad Brückenau sind Sänger zwischen 18 und 70 Jahren. „Im letzten Jahr konnten wir zwei neue Tenöre und einen Sopran dazugewinnen“, sagt Dekanatskantor Markus Wollmann. Und beim Frauenchor des Gesangsvereins Thüngersheim sind 30 Frauen zwischen 16 und 66 Jahren engagiert. Die beiden 16-Jährigen wechselten gerade vom zehnköpfigen Jugendchor herüber.
Die Chorjugend wiederum macht Petra Held vom Vorstand des Gesangsvereins ein wenig Sorgen. Sie findet es schwierig, Jungen und Mädchen anzulocken. „Wir müssen uns die Kinder und Jugendlichen im Ort mit dem Musikverein, der Wasserwacht, den Sportvereinen und der Garde teilen.“
Vor einem Jahr allerdings erlebte der Jugendchor einen kleinen Boom. „Was daran lag, dass die Chorjugend zuvor das Musical ,Frozen? aufgeführt hat“, sagt Petra Held. „Das hat viele junge Leute begeistert, sie wollten dann auch so etwas auf die Beine stellen.“ Der Eifer ließ jedoch schnell nach: „Denn die Kinder merkten, dass man nicht von heute auf morgen ein Musical auf die Bühne bringen kann, sondern erst mal das Singen übt.“
Doch manche bleiben dabei, wie Iljana Mühlig vom Chor „ma so ma so“ aus Gräfendorf im Landkreis Main-Spessart. Seit drei Jahren ist die 17-Jährige aus Rieneck jetzt dabei: „Bei einem Konzert war ich vom Chor und seinen modernen Chorsätzen so begeistert, dass ich mich noch am selben Abend für die nächste Probe angemeldet habe.“