
Vier Bücher, gar nicht mal so dünne, liegen auf dem Tisch im Esszimmer von Traute Schroeder-Kurth. Sie sind gefüllt mit Erinnerungen aus dem Leben der 86-Jährigen. Wer mit ihr plaudert, wird sich wundern, dass es nur vier sind. Ein Leben voll von Herausforderungen, Entdeckungen und Idealen schildert Traute Schroeder-Kurth in ihren ruhigen, norddeutsch gefärbten Worten.
1971 beginnt ihre Verbindung zu Eibelstadt. Damals richtet ihr Mann gemeinsam mit seinem Freund, dem Maler Goetz Roethe, den Weißen Turm als Atelier und Wohnung her. Seit 1995 lebt Traute Schroeder-Kurth in dem fränkischen Städtchen. Aber erst 2011 wird sie in Eibelstadt bekannt, als sie die bis heute gut funktionierende Nachbarschaftshilfe gründet. Zu dieser Zeit lebt die Ärztin schon eine Weile in einem Zustand, den man kaum guten Gewissens als Ruhestand bezeichnen kann.
Als geduldetes Mädchen auf der Jungenschule
Denn 1995, kaum von Heidelberg nach Eibelstadt übersiedelt, wird Traute Schroeder-Kurth Gastprofessorin an der Universität Würzburg und ist es bis heute. Die Humangenetik, die eher zufällig zum Schwerpunkt ihres Schaffens wurde, nimmt in ihrem Leben noch immer eine zentrale Stellung ein. Schon früh erkennt Traute Schroeder-Kurth, dass dieser Bereich der Medizin ein gewichtiges Anhängsel hat: die Ethik, mit der sich die Ärztin ab den 1970er Jahren leidenschaftlich auseinanderzusetzen beginnt.
Von alldem weiß die Sechsjährige, die 1936 mit ihrer Familie von Heidelberg nach Glückstadt an der Elbe zieht, noch nichts. Die kleine Traute hat erst einmal genug damit zu tun, plattdeutsch zu lernen. Sie besucht als „geduldetes Mädchen“ eine Schule für Jungen, denn nur für die gibt es damals in Glückstadt eine Oberschule. Schon damals hat sie ihren Berufswunsch klar vor Augen: Ärztin will sie werden. Doch nach dem Krieg ist die finanzielle Situation der Familie angespannt. Zunächst muss die Ausbildung des älteren Bruders bezahlt werden – für Trautes Medizinstudium ist kein Geld mehr übrig.
Auf Umwegen zum Medizinstudium
Die junge Frau, die 1950 ihr Abitur macht, wählt daher einen anderen Weg. Beim Letteverein in Berlin, der insbesondere Frauen eine Ausbildung ermöglicht, lernt sie den Beruf der medizinisch-technischen Assistentin (MTA). Nach einem Jahr bei einem Röntgenarzt in der Schweiz wechselt sie an eine chirurgisch-gynäkologische Klinik in der Lüneburger Heide. Ihr dortiger Chef setzt sich sehr für ihre berufliche Weiterentwicklung ein. Durch seine Fürsprache erreicht die junge Frau ihr ursprüngliches Ziel: Sie darf endlich doch noch Medizin studieren.
Der Vater, ein Architekt, ist damals bereits 68 Jahre alt. Unermüdlich arbeitet er weiter, um seine Tochter unterstützen zu können. Als Medizinalassistentin zieht Traute Schroeder-Kurth von Hamburg nach Berlin, wo sie zum Institut für Humangenetik kommt. Dessen Leiter ist gerade im Begriff, ein solches Institut auch an der Universität Heidelberg aufzubauen.„Das war damals ein neues Fach“, sagt Traute Schroeder-Kurth.
Forschungsaufenthalte in den USA
Obwohl sie sich eigentlich auf Kinderchirurgie spezialisieren will, kann sie der Einladung ihres Chefs nach Heidelberg nicht widerstehen – immerhin haben sich dort ihre Eltern kennengelernt. „Ich dachte: Humangenetik kann nicht schaden“, sagt die 86-Jährige und lacht. In Heidelberg baut sie das Chromosomenlabor auf. Und dort macht sie, aus ihrer MTA-Zeit an das genaue Beobachten am Mikroskop gewohnt, eine aufsehenerregende Entdeckung.
Im Erbgut von an Fancomi-Anämie erkrankten Menschen entdeckt die Ärztin 1964 die sogenannte Chromosomenbrüchigkeit: Die Chromosomen dieser Menschen neigen dazu, sich nach der Teilung nicht wieder richtig zusammenzusetzen. Ihre erste Publikation zu diesem Thema sorgt in der Fachwelt für Wirbel. Die Ärztin wird mehrfach in die USA eingeladen, wo sie Gelegenheit erhält, sich in die Forschung einzuklinken.
Ethische Fragen rücken in den Fokus
1971 wird Traute Schroeder-Kurth Leiterin des Instituts für Anthropologie und Humangenetik an der Universität Heidelberg. Diese Position ermöglicht ihr, was ihr neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit besonders wichtig geblieben ist: den Kontakt zu den Patienten. Die genetische Beratung wird zu dieser Zeit immer wichtiger. Seit 1976 ist die Pränataldiagnostik möglich – die Untersuchung des ungeborenen Kindes auf genetische Defekte.
Mit der Neuregelung des § 218 StGB zum Schwangerschaftsabbruch erlangen werdende Mütter zwar ein hohes Maß an Selbstbestimmung, damit aber auch die für manche überaus schwere Bürde der Entscheidung für oder gegen ein Kind mit einer Krankheit oder Behinderung. Traute Schroeder-Kurth wird mit dieser ethischen Dimension ihrer wissenschaftlichen Arbeit unmittelbar konfrontiert. Die heftigen Diskussionen erreichen die Ärztin auf verschiedenen Wegen.
Auch im Ruhestand noch an der Uni aktiv
„Die Behindertenverbände meldeten sich“, erinnert sich die 86-Jährige. „Sie verstanden diese Regelung nicht.“ Es kommen auch erblich belastete Eltern, die zur Familienplanung Rat suchen. Die Ärztin begreift, dass Aufklärung Not tut. Aufklärung der Öffentlichkeit, aber auch der Ärzte. Traute Schroeder-Kurth treibt die Öffentlichkeitsarbeit voran, wird Mitglied in nationalen wie internationalen, teils Ministerien, teils Organisationen zugeordneten Ethikkommissionen. „Ich musste auch Dinge machen, die ich nicht gelernt hatte“, schmunzelt sie heute. Der Diskurs über ethische Fragen in der Medizin wird ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Sie widmet sich ihm mit Freude, noch immer.
Als Traute Schroeder-Kurth 1995 nach Eibelstadt zieht, lebt ihr Mann noch. Ende der 1960er Jahre hatte sie ihn in Heidelberg kennengelernt. Da der Deutsch-Kanadier kriegsversehrt ist, zieht das Paar in Eibelstadt in eine behindertengerechte Wohnung, wo seine Frau ihn auch nach einem schweren Schlaganfall pflegt. 2006 wird noch die Silberhochzeit gefeiert, doch 2007 stirbt der geliebte Ehemann.
Schreiben zur Trauerbewältigung
Da hat seine Frau bereits mit dem Schreiben angefangen. Die schönen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit festzuhalten, hilft ihr, die Trauer zu bewältigen. Dass ihr 1996 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, erwähnt die 86-Jährige im Gespräch gar nicht erst. Ihr sind andere Dinge wichtig. Etwa die Nachbarschaftshilfe Eibelstadt, deren Leitung sie vor Kurzem in jüngere Hände gelegt hat. Und ebenso ihr Engagement für die Bewohner des Eibelstadter Seniorenzentrums, die sie regelmäßig besucht.
„Im Seniorenzentrum wurde ich zur Geschichtenerzählerin“, sagt sie. „Am besten sind die Geschichten, die man selber erlebt hat.“ Deshalb hält Traute Schroeder-Kurth diese Geschichten zum Vorlesen fest. Die schönen Geschichten von ihren Reisen in der ganzen Welt, die von den lustigen Begebenheiten. Denn vor allem Eines ist wichtig im Seniorenheim: Dass die Erzählungen ein heiteres Ende haben.
Humangenetik und Ethik
Humangenetik ist die Wissenschaft von der Vererbung und den erblichen Merkmalen des Menschen. Sie hat Schwerpunkte wie die Molekulargenetik, die biochemische Genetik, die Immungenetik, die Zellgenetik, die Epigenetik, die Populationsgenetik, die Evolutionsgenetik und die Verhaltensgenetik.
Die Patientenversorgung geschieht in der Medizinischen Genetik, wo sich Fachärzte um die Probleme von Ratsuchenden kümmern und die Diagnostik (Chromosomen-Analysen oder heute auch molekulargenetische Untersuchungen einzelner krankmachender Gene) anbieten, um die Fragen der Patienten mit hinreichender Sicherheit beantworten zu können.
Die ethischen Probleme haben sich in den letzten 50 Jahren nicht wesentlich verändert. Immer geht es um Grenzen zwischen medizinischen Möglichkeiten und der Würde des Menschen. Das trifft auf Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch genauso zu wie auf den Umgang mit außerhalb des Körpers gezeugten Embryonen, an deren Zellen die
Präimplantationsdiagnostik durchgeführt werden kann.