Viele Menschen können das Lied „Only Time“ von der irischen Sängerin Enya nicht hören, ohne an den Anschlag auf das World Trade Center am 9. September 2001 zu denken. Warum haben große Katastrophen so etwas wie „Soundtracks“? Welche Rolle spielt Musik im Umgang mit Katastrophen wie die Anschläge in New York oder Paris? Das erklärt Andreas Lehmann. Seit dem Jahr 2000 ist er Professor für systematische Musikwissenschaft und Musikpsychologie an der Hochschule für Musik Würzburg.
Frage: Welche Rolle spielen Musik und Humor im Umgang mit solchen Katastrophen wie etwa den Anschlägen in Paris?
Andreas Lehmann: Redewendungen wie „Mit Musik geht alles leichter“ oder „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ geben einen Hinweis auf deren Bedeutung in Katastrophensituationen. Dahinter steht die Idee der Katharsis. Humor hat eine reinigende Wirkung, er ermöglicht eine Entladung der Spannung. Ähnlich könnte auch die Rolle der Musik aussehen. Musik wird beispielsweise gerne genutzt, um mit Trauerfällen fertig zu werden.
Inwiefern kann Musik in solchen Situationen helfen?
Lehmann: Musik hilft nicht jedem und auch nicht generell. Aber Musik zeigt uns: Wir sind nicht allein. Sie schafft ein Kollektiv. Das ist etwas, dem kann sich keiner entziehen. Ob jemand das nun jedoch als Hilfe in entsprechenden Situationen empfindet, ist etwas Anderes. Darüber hinaus spiegelt Musik die Emotion wieder, die wir zu spüren glauben. Trauer, Betroffenheit und Wut etwa finden viele Menschen häufig auch in der Musik wieder.
Verstärkt Musik nicht unsere Trauer?
Lehmann: Nein. In anderen Ländern etwa gibt es das Ritual der Klagelieder nach einem Todesfall. Diese verstärken die Trauer nicht, sie bilden viel mehr einen gesellschaftlich anerkannten Kanal für die ganzen Emotionen. Die Menschen wissen in solchen Situationen oft nicht, wie sie mit ihren Emotionen umgehen, wie sie sie ausdrücken sollen. Musik hilft ihnen dabei. Sie verstärkt die Trauer nicht, sie assistiert den Trauernden, führt die Emotionen in legitime Wege. Man wird durch Musik also nicht trauriger, man fühlt sich durch sie aufgehoben.
Wann ist das Bedürfnis der Menschen nach Musik besonders groß?
Lehmann: Zum einen immer dann, wenn es um große Gefühle geht. Aber auch in Situationen, in der Kinder beteiligt sind. Beispielsweise singen wir, um Kinder zu beruhigen, um Kinder zu trösten und auch, um Kinder abzulenken. Musik hat sicher auch eine Ablenkungsfunktion, wenn sie die Aufmerksamkeit von der Trauer oder der Wut weg auf sich lenkt.
Wann ist Musik angebracht? Oder anderes gefragt: Darf man in Katastrophen Musik hören?
Lehmann: Meiner Meinung nach, ist Musik immer dann angebracht, wenn sie von den Menschen, die an einer entsprechenden Situation beteiligt sind, nicht als störend empfunden wird. Musik führt zur Entspannung, zur Gemeinschaftsbildung und damit hilft sie. Gleiches gilt für den Humor. Auch er kann eine persönliche Befreiung vom Druck, von der Anspannung in einer Katastrophensituation sein. Bei manchen Menschen entlädt sich Spannung als Lachen – auch wenn es in der Situation nicht angemessen erscheint.
Viele Menschen können das Lied „Only Time“ von Enya nicht hören, ohne an den Anschlag auf das World Trade Center am 9. September 2001 zu denken. Warum haben große Katastrophen so etwas wie „Soundtracks“?
Lehmann: Ich nenne so etwas nicht Soundtracks. Ich verwende den Begriff „urbane Hymnen“. Diese Lieder sind ein kollektives Lied. Sie geben der Katastrophe eine Projektionsfläche. Lieder wie etwa „ Only Time“ werden nachträglich emotional aufgeladen. Wie so etwas hochgespielt wird, welches Lied zur „urbanen Hymne“ wird, ist allerdings in der Regel ein Zufall.
Was meinen Sie damit?
Lehmann: Es ist beispielsweise schwierig, Merkmale eines solchen Liedes zu benennen. Der Text, die Melodie müssen ebenso zur Situation passen, wie die Musiker selbst. Wenn eine rechtsradikale Gruppe ein Lied zur Flüchtlingsthematik machen würde, wird es nicht gut ankommen – selbst wenn der Text angemessen wäre. Diese Zufälligkeit gilt nicht, wenn sich eine Gruppe wie „Band Aid“ (Do they Know is Christmas (Anmerkung der Redaktion)) gezielt formt. In einem solchen Fall, ist natürlich mit einem erhöhten Medieninteresse zu rechnen. Für die Spendenaktion ist das auch so gedacht. Da brauchen wir die großen Namen.
Welche Rolle spielt dabei die Kommerzialisierung?
Lehmann: Ich unterstelle den Künstlern, dass die wenigsten es nötig haben, mit so einer Katastrophe Geld zu verdienen. Prinzipiell sind seröse Künstler, Menschen, die sich mit ihrer Musik ausdrücken wollen. Musiker reagieren mit Musik auf ihre Umwelt, verarbeiten Erlebtes. Lieder, die im Kontext von Katastrophensituationen entstehen, sind ein ehrlicher Ausdruck von Betroffenheit. Es ist die Stärke der Künste, dass sie diese Situationen ästhetisch kommentieren und umgestalten können.