Endre József Koncsik ist ein eher zurückhaltender Mann. Ihn bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Wenn jedoch die Erinnerungen an die Ereignisse vor 60 Jahren lebendig werden, dann ist es mit dem inneren Gleichgewicht vorbei. Seine Augen werden groß, er gestikuliert, spricht immer schneller. Der Priester und langjährige Kirchenrichter der Diözese Würzburg, übrigens der einzige verheiratete Priester im Bistum, wird wieder zum 14-Jährigen.
Bilder und Emotionen kommen hoch. Endre Koncsik befindet sich wieder in der Wohnung in Buda, dem westlich der Donau gelegenen Teil der ungarischen Hauptstadt Budapest. Er hört die Schüsse knallen und die Panzer durch die Straßenzüge donnern. Er spürt die Bedrohung, erlebt erneut die zerstörerische Wirkung, als ein Geschoss in der Wohnung landet.
Die Druckwelle wirft ihn, seine Mutter und seine beiden Schwestern auf den Boden. „Wir hatten Glück, weil das Geschoss nur zum Teil explodiert ist“, erzählt der Geistliche. Als „furchtbar“ beschreibt der heute 74-Jährige das traumatische Erlebnis vom 4. November 1956, „ein Krieg kann nicht schlimmer sein“.
Niemand darf raus, niemand seine Angehörigen benachrichtigen
Am 23. Oktober vor 60 Jahren hat die Ungarische Revolution begonnen. Seit dem 4. November 1956 schlägt die von János Kádár herbeigerufene sowjetische Rote Armee den Volksaufstand mit brutaler Gewalt nieder. Später wird er dafür mit dem Amt des ungarischen Ministerpräsidenten belohnt.
Es gibt viele Opfer in diesen Tagen, und auch nach der gescheiterten Revolution. Beinahe hätten auch die drei Koncsik-Kinder sowie die Mutter nicht überlebt. „Spätestens seit diesem Zeitpunkt konnte ich die Kommunisten nicht mehr ausstehen“, sagt Endre Koncsik voller Überzeugung.
Wo sich der Vater zu diesem Zeitpunkt befindet, wissen die vier nicht. Er ist Lehrer, aber er darf nicht in seinem Beruf tätig sein, weil er sich offen gegen den Kommunismus auflehnt. Deshalb muss er in einer Fabrik arbeiten. Drei Tage lang ist der Vater verschwunden. Er darf seinen Arbeitsplatz nicht verlassen. Die Tore der Fabrik sind verschlossen. Niemand darf raus, niemand seine Angehörigen benachrichtigen. Auch dieses Gefühl der Ungewissheit, des Hoffens und Bangens, ob der Vater noch lebt, sind für Endre Koncsik 60 Jahre später noch genauso lebendig und aufwühlend.
Hochzeit vor der Priesterweihe
Trotz anhaltender Repressalien gegen die Kirche im damaligen Ungarn entschließt sich der Sohn, Priester zu werden. Das hat Tradition – bis heute. „In unserer Familie gibt es viele Priester.“ So war der Bruder der Mutter einige Jahre der Generalvikar der griechisch-katholischen Diözese Hajdúdorog im Osten Ungarns. Auch Cousins der Mutter wirkten als Seelsorger. Cousinen und auch beide Schwestern von Endre Konscik sind mit Priestern verheiratet. Und sein Neffe ist der Offizial der Diözese Hajdúdorog. Der griechisch-katholischen Kirche in Ungarn gehören etwa 350 000 Gläubige an. Sie ist eine mit Rom vereinigte Teilkirche.
Was in der römisch-katholischen Kirche nicht möglich ist, ist in der griechisch-katholischen Ostkirche normal. Einzige Bedingung: Die Hochzeit muss vor der Priesterweihe erfolgen. So kommt es, dass auch Endre Koncsik verheiratet ist.
Dass er und seine Ehefrau Ute nicht mehr in der ungarischen Stadt Miskolc, sondern in Würzburg leben, wohin sie 1980 geflohen sind, hat mit den politischen Verhältnissen zu tun und letztlich auch mit dem gescheiterten Volksaufstand, nach dem die Kommunisten ihre Macht im Lande ausbauten. Und es hat – wie sie erzählen – mit einem Bischof zu tun, der nicht nur seine geistliche Berufung erfüllt, sondern auch als Stasi-Spitzel im Land des „Gulaschkommunismus“ tätig ist. „Wir standen immer unter Beobachtung“, sagt Ute Koncsik.
Kennengelernt hat der eher ruhige Endre seine temperamentvolle und zupackende Ute allerdings nicht in seiner Heimat, sondern in Halle an der Saale. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, schwärmt Ute Koncsik, ihr Mann lächelt. Diese Erinnerungen sind ihm natürlich viel lieber als die an die ungarische Revolution.
Ute Koncsik hat sich in Miskolc eine neue Existenz aufgebaut
Als der Priesteranwärter, der sich Mitte der 1960er Jahre auf einer Studienreise in der DDR befindet, eine junge Frau auf der Straße nach dem Weg fragt, springt sofort der Funke über. Bis zur Hochzeit dauert es jedoch noch eine Weile – weil die Braut eine Deutsche ist, wenigstens aus dem kommunistischen beziehungsweise realsozialistischen Teil Deutschlands. Auch die Tatsache, dass Priester in Ungarn damals nicht allzu viel verdienen und keinen angesehenen Status haben, spielt bei den Überlegungen eine Rolle. „Wir haben uns viele Briefe geschrieben und waren zwei Jahre verlobt.“ Dann endlich erlaubt der damalige Bischof von Hajdúdorog, Miklós Dudás, der auch Apostolischer Administrator von Miskolc war, die Heirat. 1968 läuten die Hochzeitsglocken. Ute Koncsik ahnt trotz aller Glücksgefühle, welches Leben sie in Ungarn erwartet.
„Ich habe meine Existenz in Halle aufgegeben.“ Sie baut sich in Miskolc eine neue auf. Ute Koncsik nimmt die ungarische Staatsbürgerschaft an, gibt als Dozentin Professoren der Universität Deutschunterricht, arbeitet als Simultandolmetscherin auf internationalen Konferenzen und als Übersetzerin. Sie verdient weit mehr als ihr Mann.
Unentgeltlich sind ihre weiteren „Arbeiten“, die nur heimlich stattfinden können. Im Keller ihres Hauses haben sie einen Raum für Religionsunterricht eingerichtet, ihr Mann, Kaplan in Miskolc und Diözesanrichter am Kirchlichen Gericht der Diözese Hajdúdorog, bereitet dort Kinder auf die heilige Kommunion vor. Sie haben zudem einen Chor gegründet und Jugendgruppen ins Leben gerufen. Ein gefährliches Unterfangen im kommunistischen Ungarn.
Natürlich wissen die Koncsiks, dass es eine Stasi-Akte von ihnen gibt. Sie erhalten auch mehrfach Besuch von einem ungarischen Stasi-Oberst, er lädt sie zudem öfter vor. „Mein Mann war aber nicht karrieresüchtig und durch meinen Verdienst auch finanziell nicht beeinflussbar und erpressbar“, sagt Ute Koncsik. Sie hat bereits in der DDR Erfahrung mit der Staatssicherheit gemacht. Ihr Vater galt als US-Spion. „Das war eine Verwechslung.“ Die Verhörmethoden und die Einzelhaft hat ihr Vater nie vergessen.
Die Ankunft in Würzburg
Ute Koncsik war also gewarnt. Unter Imre Timkó, von 1975 bis zu seinem Tod 1988 Bischof des griechisch-katholischen Bistums Hajdúdorog und laut Ute Koncsik ein Spitzel der Staatssicherheit, wird das Leben in Ungarn für das Ehepaar immer schwieriger. Endre Koncsik kennt den Bischof bereits seit Jahren. „Schon als ich Priesterseminarist an der griechisch-katholischen Hochschule in Nyíregyháza war, hat er sich über mich beschwert, aber ich kam nie an ihn heran.“ Ehefrau Ute findet deutlichere Worte: „Er hat uns bei der Stasi angeschwärzt.“ Und das, obwohl die Koncsiks nur das taten, was unter gläubigen Katholiken keinesfalls ein suspektes Verhalten ist: das Evangelium zu verkünden.
Auch der Mann von Endre Koncsiks Cousine arbeitet heimlich für das Kádár-Regime und horcht Leute aus. Der damalige Kunstbeauftragte der Diözese Hajdúdorog verrät auch seine Verwandten. Als daraufhin Endre Koncsik mit Suspendierung gedroht wird, ist beiden klar, dass sie zusammen mit ihrem 1969 geborenen Sohn Imre Ungarn besser verlassen. Endre Koncsik ist katholischer Priester aus Berufung – und will es bleiben.
Ute Koncsik bereitet alles vor, verliert jedoch ihren Personalausweis. Über Umwege besorgt sie sich einen neuen. Am 11. Februar 1980 hält sie ihn in ihren Händen. Drei Tage später kommen sie in Würzburg an.
„Der liebe Gott hat uns viel beigestanden“, sagt sie, bedauert aber, dass sie nur das Nötigste mitnehmen konnten und dass sie viele Fotos und andere Erinnerungsstücke vor der hastigen Abreise verbrennen mussten. „Auch unsere Briefe, die wir uns als Verlobte geschrieben haben.“ Wichtige Dokumente haben sie in einer Küchen- und Klopapierrolle eingewickelt und zuvor Bekannten mitgegeben.
Eigentlich soll das Ehepaar nach Hildesheim. Doch der dortige Bischof bringt sie mit Bischof Paul-Werner Scheele in Kontakt. „Er hat uns mit offenen Armen empfangen und sich bemüht, dass mein Mann in Würzburg als Priester eingesetzt wird.“ 1981 ist es so weit, die Zusage aus Rom trifft ein. „Mein Mann war damals der erste und einzige griechisch-katholische Priester weltweit, der in eine römisch-katholische Diözese inkardiniert, also aufgenommen wurde“, sagt Ute Koncsik. Ihr Mann ist gleichzeitig Seelsorger für die ungarischen Katholiken im Bistum und hilft in verschiedenen Gemeinden aus. 1990 wird er von Bischof Scheele zum Vizeoffizial (Kirchenrichter) ernannt.
Priestersein und Eheleben - keine unvereinbaren Lebensmodelle
Das Ehepaar lebt sich in Würzburg schnell ein, nur der damals zehnjährige Sohn Imre ist anfangs traurig, dass er alle seine Freunde zurücklassen musste. Endre Koncsik bemüht sich um die deutsche Staatsbürgerschaft, seine Frau Ute wird „für teures Geld“ wiedereingebürgert – und muss grundlegende Veränderungen akzeptieren. Sie lebt zwar in Freiheit, wird aber gebeten, sich als Ehefrau eines katholischen Priesters im Hintergrund zu halten. „Ich sollte nicht mehr arbeiten, sondern quasi als Haushälterin auftreten“ – damit im Bistum wohl keine unliebsamen Diskussionen um den Zölibat aufkommen.
Ute Koncsik gehorcht. Sie gibt ihren Beruf auf – muss allerdings im Gegensatz zu einer „normalen“ Pfarrhausfrau unentgeltlich arbeiten. Dabei haben die beiden ja bereits in Ungarn erfolgreich vorgelebt, dass Priestersein und Eheleben keine unvereinbaren Lebensmodelle sein müssen.
Nach außen hin spielt sie ihre Rolle bis heute perfekt. „Beim Einkaufen werde ich manchmal heute noch gefragt: ,Na, Frau Köchin, was kochen wir denn heute für den Herrn Pfarrer?‘“ Sie lacht darüber. Ebenso ihr Mann. Eines hat er aber entschieden abgelehnt. „Als mich eine Küsterin kurz vor dem Gottesdienst bat, meinen Ehering abzunehmen, habe ich Nein gesagt.“
Rückblickend empfinden es beide als großes Glück, dass Bischof Scheele keine Vorbehalte gegen einen verheirateten Priester hatte. „Auch die Ritaschwestern haben uns nach unserer Flucht aus Ungarn in Würzburg sehr freundlich aufgenommen und anfangs in vielen Dingen beigestanden.“
So konnten sie innerlich Abschied nehmen von den Repressalien in Ungarn. Doch vergessen haben sie nichts. Und als jetzt wieder ein runder Jahrestag der Ungarischen Revolution begangen wird, denkt Endre Koncsik wieder mehr an sein Heimatland und an die politischen Ereignisse, die sein Leben schon als Jugendlicher kräftig durcheinandergewirbelt haben.