Volkstrauertag. Wohl kein anderer staatlicher Feiertag in Deutschland hat eine derart wechselhafte Geschichte. Vor 100 Jahren vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge als Gedenktag an die Toten des Ersten Weltkriegs vorgeschlagen, wurde er zum Spielball der Interessen: vom Tag der Erinnerung an zwei Millionen Kriegstote, der Sehnsucht nach „Ewigem Frieden“, bis hin zur Heldenverehrung im Nationalsozialismus. 1939 ließ Propagandaminister Joseph Goebbels die Flaggen nicht mehr auf halbmast, sondern vollstock hissen, und alle entscheidenden Schritte der Kriegsvorbereitung wurden auf ein Datum in unmittelbarer Nähe zum Heldengedenktag gelegt.
Dass die unfassbaren Folgen des Zweiten Weltkrieges erneut einen Tag des Gedenkens an die zahllosen Toten notwendig machten, liegt nahe. Doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg ging das Töten in Kriegen weiter, das wissen wir. In Europa, wo die unendlich erscheinenden weißen Gräberfelder die Stadt Sarajewo umrahmen, in Afrika und nicht zuletzt im Nahen Osten mit Syrien und dem Jemen. Dass die meisten der 68,5 Millionen Flüchtlinge vor Krieg und Gewalt fliehen, ist bekannt. Ebenso, dass der geringste Anteil von ihnen Zuflucht in Europa sucht, geschweige denn findet.
Bemerkenswert ist daher der Wortlaut des offziellen Totengedenkens, mit dem der Bundespräsident Jahr für Jahr an die weltweite Dimension von Gewalt und Krieg erinnert und Verfolgungen aus rassistischen Gründen sowie Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache benennt. Wird dieses Gedenken in Zeiten der Zunahme an individueller und virtueller Trauerkultur sowie rassistischer Gewalt wahrgenommen? Erinnerungskultur steht auf dem Prüfstand, wenn die Zeitzeugen der Weltkriege seltener werden.
Aus christlicher Sicht bleibt der Ruf, die Begegnung zu suchen und zu fördern. Menschen, die an Gott glauben, vertrauen darauf, dass wir als Geschöpfe Gottes eine Menschheitsfamilie sind und dass nur der Dialog zum Frieden führen kann. Dabei können uns Zeugen heutiger Kriege helfen, die unter uns leben. Menschen, die um ihre Angehörigen und Freunde trauern. Aus Syrien, aus Afghanistan und Somalia. Suchen wir das Gespräch mit ihnen, fördern wir die Begegnung. In Klassenzimmern, in der Nachbarschaft, auf der Straße. Denn es gilt, den Aspekt des „Totengedenkens“ unseres Bundespräsidenten ernst zu nehmen: „Unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.“
Angelika Wagner, Pfarrerin