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WÜRZBURG
Virtuelle Realität: Digital gegen die Angst
Virtuelle Realität: Von Essstörung über Spinnenphobie bis zur Depression – Computeranimationen können in der Psychotherapie helfen. Aber können sie auch den Therapeuten ersetzen?
Denise Schiwon
Denise Schiwon
 |  aktualisiert: 24.04.2017 03:16 Uhr

Dominik Gall steht auf einem schmalen Steg. Es ist wackelig. Wind bläst ihm um die Ohren. Vögel zwitschern. Mehrere Hundert Meter trennen seine Füße vom Boden. Selbst die Baumwipfel sind nur bei genauem Hinsehen zu erkennen. Vorsicht! Beinahe wäre er abgerutscht. Passiert wäre ihm allerdings nichts. Denn Dominik Gall steht nicht wirklich auf einem schmalen Steg, sondern auf einem Holzbrett am Boden. Doch durch die Virtual-Reality-Brille (VR-Brille), die er trägt, erscheint ein riesiger Abgrund unter ihm. Mithilfe von Sensoren und Kameras werden seine Bewegungen eins zu eins digital abgebildet. Als Mitarbeiter des Lehrstuhls für Human-Computer-Interaction (Mensch-Computer-Interaktion) an der Universität Würzburg testet er die Animation „Cliff Pit“. In dieser virtuellen Realität muss der Protagonist in schwindelerregender Höhe Aufgaben erledigen. Nichts für Menschen mit Höhenangst. Oder etwa doch?

VR-Brillen für Spielekonsolen oder Smartphones sorgen für ein intensiveres Spielerlebnis. Doch sie sind längst nicht mehr nur im Unterhaltungssektor zu Hause. In zahlreichen Projekten haben sie sich zur Unterstützung der Psychotherapie als nützlich erwiesen. An solchen Animationen forscht Professor Marc Erich Latoschik mit seinem Team am HCI-Lehrstuhl.

Erzeugt werden virtuelle Realitäten etwa durch VR-Brillen. Sie sind vergleichbar mit übergroßen 3-D-Brillen. Der Bildschirm im Innern zeigt beiden Augen ein anderes Bild. Dadurch entsteht ein räumlicher Eindruck von Tiefe. Sensoren sorgen dafür, dass sich der Protagonist in der virtuellen Welt umsehen kann, sobald er seinen Kopf bewegt. So wird aus der virtuellen Welt virtuelle Realität. Und sie können dabei helfen, psychische Krankheiten oder Schmerzen zu behandeln. Der Einsatz der Technologie wird etwa in der Konfrontationstherapie (auch Expositionsbehandlung) untersucht. Bei der Therapieform werden die Betroffenen mit ihrer Angst konfrontiert, beispielsweise Spinnen oder Höhe.

Jedoch ist die Behandlung sehr aufwendig: Therapeuten müssten mit ihren Patienten auf Hochhäuser steigen oder mit dem Flugzeug reisen. Marc Erich Latoschik kann diese Situationen digital erstellen. Die Betroffenen können so weder tatsächlich vom Kirchturm fallen, noch muss der Therapeut Spinnen horten. Ein weiterer Vorteil: Der Therapeut kann den angstauslösenden Faktor kontrollieren. Höhe des Hauses, Anzahl der Spinnen, Größe des Aufzugs.

Wenn die Angst auf diese Weise langsam abgebaut wird, sinkt das Risiko von Rückfällen bei der Konfrontationstherapie. Das fanden Forscher um den Psychologieprofessor Andreas Mühlberger, der früher in Würzburg arbeitete und heute an der Uni Regensburg tätig ist, heraus. In Tests konnte Mühlberger außerdem zeigen, dass Computersimulationen bei der Therapie von Spinnenphobien wirksam sein können. Neu sind die Erkenntnisse zum Einsatz von VR in der Therapie gegen Spinnen- und Höhenangst nicht. Die ersten Studien stammen aus den 90er Jahren. Doch bis die virtuelle Realität im Alltag ankam, vergingen gut 20 Jahre.

Latoschik weiß, wieso: „Die VR-Technologie ist in den vergangenen Jahren um ein Vielfaches günstiger geworden.“ Habe man damals noch mehrere Hunderttausend Euro hinlegen müssen, sind VR-Technologien mittlerweile schon für einige Hundert Euro erhältlich.

Ein weiteres Hilfsmittel bei der Therapie ist der Fake Mirror, also ein „falscher Spiegel“. Eine Kamera filmt den eigenen Körper, der als Avatar etwa in Form eines Roboters auf die Leinwand vor einem projiziert wird. Der Avatar spiegelt Mimik und Gestik der Person. Ohne Vorwarnung kracht nach wenigen Minuten ein Stein auf den Roboter. Im Idealfall schreckt die Versuchsperson zurück, weil sie sich mit ihrem „Spiegelbild“ identifiziert. „Der Avatar verändert das eigene Selbstgefühl“, erklärt Dr. Jean-Luc Lugrin, Wissenschaftler am HCI-Instituts. So könne man die Wahrnehmung von Patienten mit einer Essstörung beeinflussen.

In der Praxis hapert es mit der Darstellung allerdings ab und zu noch. Manchmal reagiert der Avatar leicht zeitverzögert oder seine Bewegungen frieren ein. Der Fake Mirror sei noch ein Prototyp, erklärt Lugrin. Entwickelt wurde er von Studenten, die bereits Experimente durchgeführt haben. Der Effekt sei noch nicht so stark wie erhofft, da die Versuchspersonen ihren eigenen Körper sehen, wenn sie vor dem „Spiegel“ stehen, so Lugrin.

„Die Wirksamkeit und der Rahmen der VR-Anwendung muss noch weiter erforscht werden“, sagt Latoschik. Etwa fünf bis zehn Jahre nehme das in Anspruch. Es sei jedoch für das Team des HCI-Lehrstuhls problematisch, eine solche Studie zu gestalten, weil es nur an gesunden Menschen forschen kann. Bevor so eine Technologie eingesetzt werden kann, muss eine klinische Studie vorausgehen. „Eine klinische Studie ist vom Aufwand her eine ganz andere Liga: andere Stichprobengröße, andere Randbedingungen, klinische Fachkräfte.“

Deshalb steht der 48-Jährige unter anderem in engem Kontakt zu Psychologieprofessor Paul Pauli, der an der Uni Würzburg ebenfalls die Behandlung von Angststörungen mit virtueller Realität untersucht, und zu Professorin Katharina Domschke, die stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Würzburger Uniklinik war und jetzt an der Uniklinik Freiburg ist.

Womöglich sei die virtuelle Realität auch für daheim als Selbstmedikation denkbar. Allerdings müsse man sich dabei über Gefahren Gedanken machen. „Wenn ich es zu Hause verwenden kann, verhält es sich eher wie ein Aspirin oder Antibiotikum?“ Selbst bei maßvollem Gebrauch bestehe ein Restrisiko, dass man sich damit schädige, gibt der 48-Jährige zu Bedenken. Stichwort „Motion Sickness“. Übelkeit, Desorientierung und Schwindel, die mit dem Verwenden einer VR-Brille einhergehen können.

Ebenfalls ein Thema ist das Suchtpotenzial. Mit virtueller Realität kann man eine Welt schaffen, die viel schöner ist als die Realität und das Potenzial für Abhängigkeit hat. „Welchen Antrieb haben die Benutzer, diese Welt wieder zu verlassen?“ Im Fachjargon nennt man das Phänomen Eskapismus. „Jeder braucht Fluchtmöglichkeiten. Es ist nur eine Frage der Dosis“, fügt Latoschik hinzu.

Diese Wirklichkeitsflucht kann auch von Vorteil sein. Zusammen mit der Charité arbeitet der Würzburger Professor an einem Projektantrag, VR in der Notfallaufnahme für Schlaganfallpatienten einzusetzen. Man wird ins Krankenhaus gebracht, an zahlreiche Maschinen angeschlossen, blinkende Lichter, piepende Töne. Angst und Stress sind die Konsequenz. Der Patient verfällt in eine Art Trance-Zustand. Ihn in so einer Situation mit Hilfe von VR fliehen zu lassen zum Beispiel auf eine Blumenwiese, sei „genau das Richtige“, glaubt Marc Erich Latoschik. Ein Trauma durch die massiven Stimuli könne dadurch im besten Fall verhindert werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde führt die VR-Therapie in ihren Leitlinien, abgerechnet wird über die Krankenkassen. Für spezifische Angststörungen wird sie von manchen Therapeuten bereits angewandt. Für andere psychische Erkrankungen muss noch genauer geforscht werden. Ersetzt werden kann ein ausgebildeter Therapeut durch die Technologie nicht. Er hat die Kontrolle über die Situation, übernimmt die Patientenbetreuung. Aber die therapeutische Versorgung könnte verbessert, Wartezeiten verkürzt werden. Zukunftsmusik ist virtuelle Realität in der Praxis jedenfalls nicht mehr.

Die Sensoren an den Gelenken übertragen die Bewegungen in die virtuelle Realität.
Foto: Thomas Obermeier | Die Sensoren an den Gelenken übertragen die Bewegungen in die virtuelle Realität.
Wie ein Spiegelbild: Der Avatar bewegt sich synchron zur Person vor der Leinwand.
Foto: Thomas Obermeier | Wie ein Spiegelbild: Der Avatar bewegt sich synchron zur Person vor der Leinwand.
Alles am richtigen Platz: Jean-Luc Lugrin (links) und Marc Erich Latoschick (rechts) helfen Dominik Gall beim Anbringen der Sensoren. Kameras filmen die Bewegungen (Mitte).
Foto: Thomas Obermeier | Alles am richtigen Platz: Jean-Luc Lugrin (links) und Marc Erich Latoschick (rechts) helfen Dominik Gall beim Anbringen der Sensoren. Kameras filmen die Bewegungen (Mitte).
 
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