Der Beschuldigte lächelt jeden freundlich an. Seinem Verteidiger hat er ein Armbändchen aus bunten Bändern geflochten, als seine Mutter kommt, strahlt er, schreit „Mama“, rennt der Frau in die Arme. Er ist ein Kind im Körper eines Mannes.
27 Jahre ist er alt und seit seiner Geburt geistig behindert. Er kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen. Er kann sich kaum artikulieren. Und manchmal kann er nicht unterscheiden zwischen Recht und Unrecht.
Im November 2015 zum Beispiel. Der 27-Jährige, der in einem Behindertenheim im Kreis Würzburg lebt, trifft an der Mülltonne eine Frau aus einer anderen Wohngruppe. Die beiden kennen sich, sie mögen sich, sie hatten schon mal Sex. Damals war es sie, die die Initiative ergriff.
Ein Kind im Körper eines Mannes
Der 27-Jährige weiß nicht, dass eine Frau einen Mann mal begehren kann und mal nicht. Er versteht nicht, dass Dinge heute so sein können und morgen anders. Er packt die Frau und vergewaltigt sie. Dass ihr Weinen und Schreien Ablehnung bedeuten, begreift er nicht.
Nun muss die Erste Strafkammer über sein Schicksal befinden. Eine Anklage gibt es in solchen Fällen nicht. Wer wegen einer geistigen Behinderung das Unrecht seiner Tat nicht einsehen kann, gilt als schuldunfähig und kann nicht „bestraft“ werden. Gleichwohl muss die Gesellschaft vor solchen Menschen geschützt werden. Deshalb wird ein Sicherungsverfahren durchgeführt, in dem es darum geht, ob der 27-Jährige in die Psychiatrie muss oder nicht.
„Ich mach das nie mehr“
Er wirkt sehr verloren auf der Anklagebank. Was die Richter fragen, erfasst er nicht. Seine Mutter, die auch seine Betreuerin ist, antwortet für ihn, sein Verteidiger Hanjo Schrepfer gibt in seinem Namen ein Geständnis ab. Es erspart dem Opfer, das schon bei seiner Strafanzeige „sehr aufgeregt“ war, eine Zeugenvernehmung. „Ich mach das nie mehr“, sagt der Beschuldigte immer wieder. Als er, unterstützt von einer Vertrauten, dem Gericht erzählt, dass er gern mit seinen kleinen Nichten und Neffen Nintendo spielt, leuchten seine Augen.
Ein Heilerziehungspfleger berichtet im Zeugenstand, dass der 27-Jährige sich bis zur Tat frei auf dem Heimgelände bewegen durfte. Er habe auch bis kurz vor der Vergewaltigung eine feste Freundin gehabt. Die Beziehung sei in die Brüche gegangen, aber jetzt wollten die beiden sich wieder treffen. „Derzeit dürfen sie nur unter Aufsicht in der Wohngruppe zusammen sein“, sagt der Pfleger. Er schildert den 27-Jährigen als einen, der Regeln und Beschränkungen akzeptiert, „wenn man sie mit ihm bespricht“.
„Bitte kein Knast“
Die psychiatrische Gutachterin befürchtet, dass der Beschuldigte weitere Straftaten begehen könnte. Wie soll er sich auch ändern, wenn er gar nicht versteht, was er falsch gemacht hat? Die Fachfrau hält es für vertretbar, dass er unter strengen Auflagen in seiner Wohngruppe bleibt.
Die Staatsanwältin beantragt, den 27-Jährigen in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen, diese Unterbringung aber vier Jahre lang und unter Auflagen zur Bewährung auszusetzen. Der Verteidiger hält eine Bewährungszeit von drei Jahren für ausreichend. Und der 27-Jährige fleht das Gericht mit Tränen in den Augen an: „Bitte kein Knast.“
Weil er eine Frau vergewaltigt hat, ordnet das Gericht die Unterbringung des Mannes in einer psychiatrischen Klinik an - und setzt sie für vier Jahre zur Bewährung aus. Der 27-Jährige darf also in seinem Behindertenheim wohnen bleiben. Dafür muss er sich an feste Regeln halten: Kein Kontakt zu seinem Opfer, Besuch von der neuen, alten Freundin nur unter Aufsicht, keine unbegleiteten Spaziergänge auf dem Heimgelände.
Die Entscheidung ist rechtskräftig.