
In diesem Jahr feiern die Bayern „200 Jahre Verfassungsstaat“ und „100 Jahre Freistaat“, zwei Meilensteine der Demokratie-Geschichte. Die Verfassung von 26. Mai 1818, erlassen von König Maximilian I., war ein erster Schritt hin zu Bürgerrechten. Die Politik so richtig mitbestimmen, durfte das Volk seinerzeit aber noch nicht. Heute ist das anders. Wer gleichwohl das Gefühl hat, er werde in seinen verfassungsgemäßen Rechten durch die Regierenden, durch den Gesetzgeber oder Gerichte eingeschränkt, kann dies überprüfen lassen – durch das Bundesverfassungsgericht, aber auch durch die Verfassungsgerichtshöfe der Länder. In Bayern übernimmt die Aufgabe der Bayerische Verfassungsgerichtshof. Einer der Richter ist Clemens Lückemann. Im Hauptberuf Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg, wurde der Jurist aus Würzburg 2015 vom Landtag zum Richter am Verfassungsgerichtshof in München gewählt. Dieses Nebenamt sei „eine große Ehre“, so Lückemann im Gespräch mit der Redaktion. Der 63-Jährige ist der zweite Stellvertreter von Präsident Peter Küspert.
Schlanke Justizbehörde
Der Verfassungsgerichtshof, untergebracht im Gebäude des Oberlandesgerichts München, ist eine schlanke Justizbehörde. Von den 22 Berufsrichtern ist lediglich Generalsekretärin Dagmar Ruderisch hauptamtlich am Verfassungsgericht tätig. Die nebenberuflichen Kollegen übernehmen, eingeteilt in sogenannte Spruchgruppen, die anstehenden Verfahren nach einem speziellen Geschäftsverteilungsplan. Unterstützt werden sie von 15 „nichtberufsrichterlichen Mitgliedern“, in der Mehrzahl Ex-Politiker und Jura-Professoren. Eine ihrer Aufgaben ist es, über sogenannte Organstreitigkeiten zu entscheiden, beispielsweise wenn sich die Opposition im Landtag in ihren Auskunftsrechten gegenüber der Staatsregierung beschnitten sieht. Aktuell läuft das Verfahren, inwieweit das Volksbegehren „Betonflut eindämmen“ rechtlich zulässig ist.
Herzstück der Arbeit indes sind die Verfassungsbeschwerden und Popularklagen, mit denen sich ein jeder Bürger an den Verfassungsgerichtshof wenden kann. Beschwerde kann einreichen, wer sich durch eine Entscheidung einer bayerischen Behörde oder eines Gerichts in seinen verfassungsgemäßen Rechten verletzt sieht. Mit der Popularklage lassen sich Landesgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen. So scheiterte 2015 der unterfränkische Erneuerbare-Energien-Pionier Hans-Josef Fell zwar mit dem Ansinnen, die von der CSU-Mehrheit im Landtag verabschiedete Abstandsregelung für den Bau von Windkraftanlagen (10-H-Regelung) zu kippen. Einen Passus des Gesetzes, nämlich jenen, der Kommunen verpflichtet, bei der Planung das Einvernehmen zu Nachbargemeinden zu suchen, erklärten die Richter gleichwohl für verfassungswidrig, weil er die Planungshoheit von Gemeinden unzulässig einschränke.
Das Recht auf freies Betreten der Natur
Erfolgreicher war ein Privatunternehmen, das mit einer Popularklage erstritt, dass zum Rettungsdienst auch private Anbieter zugelassen werden müssen. Dies verlange das in der bayerischen Verfassung geschützte Grundrecht der Berufsfreiheit.
Eine Entscheidung, an der Lückemann beteiligt war, betrifft das in der Verfassung niedergeschriebene Recht auf freies Betreten der Natur. Ein Seilbahnbetreiber in den Alpen hatte Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs eingelegt, das ihm untersagt, mehrere Skipisten für die Nutzung durch Tourengeher zu sperren. Die Richter wiesen die Beschwerde zurück, das Recht der Tourengeher wiege schwerer als Eigentumsrechte des Seilbahnbetreibers.
Jedermann-Klage ist gebührenfrei
Für Lückemann sind die zitierten Fälle Beispiele für die Bürgernähe des Verfassungsgerichtshofs. Dieser verstehe sich als „Bürgergericht“, das zur Identifikation der Bayern mit dem Freistaat beitrage. Die Popularklage, im Volksmund auch „Jedermann-Klage“ genannt, ist eine bayerische Besonderheit. Der Zugang ist niederschwellig, grundsätzlich fallen keine Kosten an. Nur wenn die Klagen und Beschwerden „offensichtlich unbegründet“ sind oder formale Voraussetzungen nicht erfüllt sind, kann das Gericht bis zu 1500 Euro Gebühren festsetzen. Lückemann: „Der Kläger wird aber vor Festsetzung von Gebühren rechtzeitig über die Aussichtslosigkeit seines Begehrens informiert.“ Jedes Jahr gehen beim Verfassungsgerichtshof im Schnitt 110 Verfassungsbeschwerden und 20 Popularklagen ein. Für Lückemann ein Beleg, „wie verantwortungsvoll die Bürger mit diesem Instrument umgehen“. Dass die Erfolgsquote letztlich nur bei drei (Verfassungsbeschwerde) bis zehn Prozent (Popularklage) liegt, spreche wiederum für die sorgfältige Arbeit von Gerichten und Gesetzgeber.
Der Verfassungsgerichtshof sichert die Werte der Bayerischen Verfassung vom 2. Dezember 1946. Schon zweieinhalb Jahre vor Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik gab sich Bayern eine Konstitution, die eine Gleichschaltung von Exekutive, Legislative und Judikative wie unter den Nationalsozialisten dauerhaft verhindern sollte. „Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat“, heißt es in Artikel drei der Verfassung. Das oberste Gericht ist der Garant dafür, dass die politisch Verantwortlichen und die Justiz bei ihrem Tun diesen Grundsätzen auch entsprechen. „Die Verfassung“, so Clemens Lückemann, „wäre nur ein zahnloser Tiger, wenn es keinen Verfassungsgerichtshof gäbe“.
Bollwerk zur Verteidigung des Rechtsstaats
Für den Richter aus Würzburg sind der Bayerische Verfassungsgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht im Streitfall das „letzte Bollwerk zur Verteidigung des Rechtsstaats“. Ihre Unabhängigkeit gelte es zu erhalten. Wer glaube, die letztinstanzlichen Gerichte seien „nur Folklore und Zierrat der Demokratie“ müsse aktuell nur in die Türkei oder nach Polen schauen, wo die Politik Axt an die Verfassungsgerichte lege – und Grundsätze des demokratischen Rechtsstaats ausgehebelt werden. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten einen obersten Juristen als „sogenannten Richter“ diffamiert, weil er etwas entschieden hat, was ihm nicht gefällt, bedeute dies, so Lückemann, dass man auch in Deutschland wachsam sein müsse, „weil einmal errungene Werte wie Demokratie und Rechtsstaat nicht von selbst auf ewig Bestand haben“.
Bürgerfest in Gaibach mit Söder und Stamm
Rund um die Konstitutionssäule in Gaibach (Lkr. Kitzingen) feiert der Freistaat Bayern an diesem Donnerstag, 17. Mai, die Jubiläen „200 Jahre Verfassungsstaat“ und „100 Jahre Freistaat“. Um 17 Uhr spricht Ministerpräsident Markus Söder im Schloss Gaibach zur Bedeutung von Verfassung und Demokratie in Bayern. Anschließend pflanzt Söder vor der Kirche zur Heiligen Dreifaltigkeit eine sogenannte Verfassungslinde.
Ein Festzug vom Schloss zur Konstitutionssäule startet um 17.45 Uhr. Anschließend findet dort im Festzelt ein „Bürgerfest“ statt. Zur Eröffnung sprechen unter anderem Paul Graf von Schönborn-Wiesentheid, dessen Familie die Säule zur Erinnerung an die Bayerische Verfassung im 19. Jahrhundert gestiftet hat, und Landtagspräsidentin Barbara Stamm.
Moderatoren am Abend sind die Fürther Kabarettisten Volker Heißmann und Martin Rassau, für die Musik sorgt die Band „Häisd'n' däisd vomm mee“ aus Stammheim (Lkr. Schweinfurt). micz