Unter dem Slogan „bewegt, mutig, gemeinsam stark“ feierte der Würzburger Verein Wildwasser im Felix-Fechenbach-Haus in Grombühl sein 25-jähriges Bestehen. „Seit unserer Vereinsgründung hat sich viel zum Positiven verändert“, berichtete Gründungsfrau Petra Müller-März. Vor allem die öffentliche Haltung: „In den 80er Jahren war sexuelle Gewalt ein ,Nichtthema’.“ Allein, dieses Thema zu benennen, konnte zur damaligen Zeit Angriffe und Beschimpfungen auslösen.
Heute wimmeln die Zeitungen phasenweise vor Berichten über Missbrauch – man denke an die zahlreichen Reportagen über die Odenwaldschule. Als sich Wildwasser gründete, war das Thema sexualisierter Gewalt „kollektiv verdrängt“, bestätigte Matthias Nitsch, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung. Immenser Mut sei in den 80er Jahren erforderlich gewesen, um die ersten Erlebnisberichte in Büchern und Zeitschriften zu veröffentlichen.
Seither wurde in vielen Untersuchungen Schritt für Schritt aufgedeckt, welche ungeahnte Dimension sexueller Missbrauch in unserer Gesellschaft hat.
Missbrauch geschieht nicht nur in Städten, sondern auch in Dörfern in der Pampa – wo jeder jeden kennt. Missbrauch geschieht nicht nur in Familien, sondern in Vereinen, Schulen, Heimen und Sakristeien. „Es gibt keine täterfreien Räume“, so Nitsch. Missbraucht wird nicht durch fremde Männer. Sondern durch Väter, Mütter und Großmütter. „Zehn Prozent sind Täterinnen“, so die Kinderpsychotherapeutin Dorothea Weinberg, die den Festvortrag hielt.
Als bis heute ungelöste Kernfrage einer kontinuierlichen, bedarfsgerechten und hochprofessionellen Beratungsarbeit für Opfer sexualisierter Gewalt sieht Nitsch die Finanzierung an: „Die Beratungsstellen sind nicht flächendeckend abgesichert.“
Auch Wildwasser muss jedes Jahr 30 Prozent seiner Arbeit durch Spenden und Sponsoring selbst aufbringen. Als kleinen Finanzierungsbaustein überreichte Oberbürgermeister Christian Schuchardt einen Scheck über 1080 Euro. Das Geld stammt aus dem Verkauf des Kiliani-Teddys durch die Schausteller.
Dass sich Kinder für das, was ihnen angetan wird, schämen, ist bekannt. Für Außenstehende schwerer nachzuvollziehen ist, dass sie sich in vielen Fällen schuldig fühlen. Die Antwort liegt in der Art und Weise, wie der Mensch beschaffen ist, so Dorothea Weinberg: „Wir sind in erster Linie soziale Wesen.“
Kindern sei es eigen, dass sie die wichtigsten Personen in ihrem Leben emotional stabilisieren wollen: „Was bedeutet, sie von Schuld frei zu halten.“ Noch irritierender sind Kinder, die, sind sie mit dem Täter zusammen, ganz so agieren, als wäre die Beziehung völlig in Ordnung.
Auf ihren Gesichtern malt sich kein Entsetzen, wenn sie den Täter sehen. Sie lächeln – auch wenn es ihnen überhaupt nicht gut geht. Traumapsychologisch sei diese Reaktion erklärbar, so Weinberg: „Die Kinder tun dies instinktiv, um den Täter zu befrieden und ihre Überlebenschancen zu verbessern.“
Täuschungsreaktionen
Nicht nur die Täter führen also ein Doppelleben. Auch betroffene Kinder erscheinen nach außen oft völlig anders als sie sich fühlen. Gerade für Gutachterinnen und Gutachter sei es immens wichtig, die Täuschungsreaktionen, mit denen Kinder instinktiv zu überleben versuchen, zu identifizieren.
Sonst sprechen sie sich für den weiteren Umgang etwa zwischen missbrauchendem Vater und missbrauchter Tochter aus, weil sie nicht ahnen, dass die Tochter nur deshalb so nett zu ihrem Vater ist, weil sie unglaubliche Angst vor ihm hat. Weinberg: „Durch Gutachten, die diese Angst nicht wahrnehmen, werden die Kinder zu dramatischen Entwicklungen verdonnert.“