Ein gutes halbes Jahr fuhr Stefan Groß zur See, mit drei Dutzend anderen Zehntklässlern auf dem Segelschulschiff Thor Heyerdahl von Kiel in die Karibik und zurück. Währenddessen lief der Unterricht fast normal weiter. „Klassenzimmer unter Segeln“ (KUS) heißt das erlebnispädagogische Abenteuer, das die Uni Erlangen-Nürnberg betreut. Mitschülerinnen und Mitschüler aus ganz Deutschland, freilich hauptsächlich aus dem Süden, passierten ein Bewerbungsverfahren, zu dem auch ein Probetörn auf der Schlei bei Eckernförde im Juni letzten Jahres gehörte.
In den letzten Schulwochen saß der 15-jährige Stefan Groß nun wieder auf einer normalen Schulbank im Röntgen-Gymnasium. Und er freute sich natürlich auf die großen Ferien. Da will er „unbedingt an den Bodensee“. Darum hat er schon Anfang Januar seine Eltern gebeten, in einem Telefongespräch zwischen Panama und der Sanderau. Sehr zur Freude seiner Eltern. „Das war früh genug“, sagt Mutter Daniela Groß, „da konnten wir noch eine Ferienwohnung in der Anlage reservieren, in der wir schon mindestens ein Dutzend mal Familienurlaub gemacht haben.“
Was war geschehen? Mag man nach einem halben Jahr auf dem Ozean nicht mehr so viel Wasser auf einmal? „Ich brauche jetzt mal etwas Bekanntes um mich herum“, bekennt Stefan Groß, „nicht schon wieder neue Eindrücke.“ Dabei fühlt er sich nach sechseinhalb Monaten zwar nicht „übersättigt“. Aber: „Ich möchte nicht schon wieder ein paar Wochen lang ständig etwas Neues verarbeiten müssen.“
Nun lief das letzte KUS-Team zahlreiche Häfen zwischen Grenada und Panama an. Aber bis in die Karibik, und dann wieder zurück: Wenn wochenlang immer dieselbe Waagerechte den Horizont bildet, droht doch durchaus mal eine Reizunterflutung. „Auch nach fünf Monaten passiert auf einem Schiff immer noch was Neues“, erklärt Stefan Groß hingegen. So rief Kapitän Detlef Soitzek, der als Geschäftsführer einer gemeinnützigen Fördergesellschaft zugleich Inhaber des Dreimast-Toppsegelschoners Thor Heyerdahl ist, drei „Schiffsübergaben“ aus, die letzte erst bei der Rückfahrt im Ärmelkanal. Schüler übernahmen alle wichtigen Positionen auf dem Schiff. Dabei gebe es, versichert Stefan Groß, „immer Überraschungen“. Er war ein Wachführer bei der zweiten Übernahme und musste entscheiden, „wer an welchem Tampen zieht“.
Der größte Gewinn, steht für ihn heute fest, sind die neuen Freundschaften: „Beim Zusammenleben auf engstem Raum wächst eine Gruppe schnell und stark zusammen.“ Dazu prägten „unglaubliche Erlebnisse“ die Beziehungen wie etwa eine Wanderung durch den Regenwald, bei der sie KUSis plötzlich auf einen Wasserfall stießen. Am Anfang der Reise, zum Beispiel noch beim ersten Landgang auf Teneriffa, teilte sich die Mannschaft unwillkürlich in zwei Gruppen auf. Diesem Mechanismus wurde entgegengesteuert, und: „Wir sind bald zu einer Einheit verschmolzen. Und es ist schon krass, wie viel und vor allem welche einmaligen Momente man einem halben Jahr erleben kann.“
Auch eine andere Art von „Streitbewältigung“ lernte er an Bord: „Wenn man auf jemanden sauer ist, muss man das nicht gleich rauslassen, sondern geht sich erst mal zwei oder drei Stunden aus dem Weg.“ Schließlich wisse man: „Wir sind aufeinander angewiesen und müssen das jetzt zusammen bringen.“ Wobei Stefan Groß am Start noch dachte, es falle ihm leicht, immer in einer Gruppe zu leben und zu arbeiten. Recht rasch erkannte er über sich selbst, wie viel Freiraum er für sich selbst benötigt.
Trotz aller Freude über die Rückkehr in sein eigenes Zimmer gab es bei der Ankunft im Kieler Hafen doch trübe Empfindungen: „In dieser Konstellation von Leuten werden wir nie wieder auf diesem Schiff sein!“
Wie einige seiner Mitreisenden war Stefan Groß vor dem Probetörn im Oktober 2015 niemals gesegelt. Und wird es wohl auch demnächst auf dem Bodensee nicht tun, jedenfalls nicht als Bootsführer. Denn mit seinem „KUS-Zeugnis“ erhielt er zwar eine Bescheinigung seiner schulischen Leistungen. Ein Segelschein, etwa im Fach „Sport“, ist darin nicht enthalten. Falls ihn solch eine Lizenz einmal reizt, kann er immerhin schon sehr viele absolvierte Seemeilen nachweisen.
Abstand von der Karrieremaschine des achtjährigen Gymnasiums verschaffte das Klassenzimmer auf hoher See übrigens nicht. An Bord wurde ein ähnlicher Schulstoff wie an Land vermittelt. Mit einem Unterschied: „Vor manchem Test bin ich auf Wache gegangen. Da hielt sich der Stress in Grenzen.“
ONLINE-TIPP
Mehr über das Projekt Klassenzimmer unter Segeln: www.kus-projekt.de