Drei Jahre und einen Tag wird sie mindestens unterwegs sein, um neue Arbeitstechniken zu erlernen, neue Menschen kennenzulernen und in verschiedenen Betrieben zu arbeiten. Wer auf die Walz geht, folgt einem jahrhundertealten Brauch. Geheimnisse und viele Regeln müssen beachtet und weitergetragen werden. Auch Adolf Kolping war als Schuhmachergeselle auf der Walz und hat in seinem Nachlass verfügt, dass Fremdreisende in den Kolpinghäusern für einen Tag umsonst Quartier beziehen dürfen. Für die Eltern von Sophia ein beruhigendes Vermächtnis, denn nicht immer haben die Fremdreisenden ein Dach über den Kopf. Der Abschied fiel den Eltern nicht leicht. Sie haben ihre Tochter mit einem lachenden und einem weinenden Auge am Uettinger Ortsschild von der Heimat in die Fremde gehoben.
Ein langer und gut durchdachter Weg liegt hinter Sophia, als zehn Wandergesellinnen und -gesellen sie nach dem Ortsschild auffingen und mit ihr in die Fremde zogen.
Viele faszinierende Geschichten über die Walz gehört
"Es war Zufall", erzählte Sophia, "dass sie nach ihrer Ausbildung zur Schilder- und Lichtreklameherstellerin, als zweite Ausbildung den Beruf der Kirchenmalerin bei der Firma Fuchs Denkmalpflege GmbH in Eisingen erlernte." Durch ihren Beruf habe sie viele Geschichten über die Walz erfahren und war fasziniert. Auf einer Sommerbaustelle hat sie mitgearbeitet und den Kontakt zu Lukas, freireisender Bootsbauer aus Hamburg, hergestellt.
Einmal im Jahr bauen die Freireisenden Fremden innerhalb von einem Monat so viel wie möglich nach alter Handwerkstradition an einem sozialen Projekt. "Mit diesen Projekten geben wir der Gesellschaft etwas zurück", berichtet Lukas. "Wir erfahren auf der Walz so viel Gutes und danken mit unserem Handwerk. Für Sophia hat sich eine Parallelwelt aufgetan, in die sie eingetaucht ist und die sie erwandern will.
Der Nachnamen wird auf der Walz abgelegt
Mit dem Loslaufen hat sie nicht nur die Kleidung gewechselt, sondern auch ihren Nachnamen abgelegt. Wie bei allen Wandergesellen wird er durch den Beruf und den Heimatort ersetzt. Der Grund findet sich in der Geschichte. Während der NS-Zeit war dem Regime das Freiheitsdenken ein Dorn im Auge. Um die Familie daheim zu schützen, waren sie ohne Nachnamen unterwegs, erzählte Lukas.
Mittlerweile dürfen auch Frauen auf Wanderschaft gehen, aber in vielen traditionellen Schächten ist es auch heute noch schwierig, deshalb hat sich Sophia für die Freireisenden Wandergesellen entschieden. Die Kluft (Kleidung) unterscheidet sich nur im Tragen der Ehrbarkeit (eine Krawatte), die die Schachtzugehörigkeit optisch unterstreicht. Als Kirchenmalerin trägt sie eine rote Kluft. Jeder Handwerksberuf hat seine Farbe.
Die Kluft besteht aus der Zunfthose, Zunftweste, Zunftsakko und Staude zum Darunterziehen. Außerdem ein schwarzer Hut (Melone oder Zylinder). Der Wanderstock wird als Stenz bezeichnet und ist aus gedrehtem Holz. Das wenige Hab und Gut, das die Fremdgeschriebenen dabeihaben dürfen, tragen sie im Charlottenburger auf dem Rücken.
Verabschiedet von Uettinger Bürgermeistern
Sophia wurde von Lukas und neun weiteren Wandergesellinnen und -gesellen abgeholt. Zweiter Bürgermeister Johannes Krämer und Dritter Bürgermeister Thomas Hofmann haben sie am Rathaus verabschiedet.
Vom Rathaus führte der Weg zum Ortsausgang Richtung Wertheim. Lukas wird Sophia als ihr Bürge drei Monate begleiten und weist sie in das weitverzweigte Netz der Wandergesellen ein. Darunter fallen auch die zahlreichen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Walz. Dazu gehört vor allem die Ehrbarkeit, also Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Achtung vor der Ehre der Mitmenschen und Gewaltlosigkeit. Schließlich wollen die nächsten auch gut aufgenommen werden.
Maximal 30 Jahre alt, ledig und kinderlos
Nicht jeder kann einfach auf Wanderschaft gehen, einige Voraussetzungen müssen erfüllt sein. Grundsätzlich gilt: Wandergesellen dürfen maximal 30 Jahre alt, ledig, noch kinderlos und schuldenfrei sein. Sie brauchen eine abgeschlossene Lehre, nur Gesellinnen und Gesellen können auf die Wanderschaft gehen.
Alle Schächte und Freireisende verpflichten sich, einen Abstand vom Heimatort von 50 Kilometern, die sogenannte Bannmeile für die Zeit ihrer Wanderschaft einzuhalten. Der Radius darf nur im Notfall, bei schwerer Krankheit oder Tod eines Familienmitgliedes in der Zeit der Wanderschaft unterschritten werden. Sie dürfen kein eigenes Fahrzeug besitzen und nur zu Fuß oder per Anhalter unterwegs sein. Außerhalb Europas dürfen sie auch andere Verkehrsmittel benutzen.
Sophia weiß, dass die lange Wanderschaft mir ihrem ganz eigenen Tempo wenig in die heutige Welt passt, die vollgestopft ist mit Schnelligkeit, Stress und Termindruck. Wer auf der Walz ist, entschleunigt und lebt in seinem ganz eigenen Tempo. Eine faszinierende, aber auch entbehrungsreiche Zeit liegt vor ihr.