Der Vortrag hatte schon mit großem Applaus begonnen. Jedem Anwesenden muss wohl klar gewesen sein: Hier wird gleich Bahnbrechendes vorgetragen werden. Hier wird jetzt etwas Historisches passieren.
23. Januar 1896, im großen Hörsaal im Physikalischen Institut der Universität Würzburg. Die Physikalisch-Medizinische Gesellschaft hat zur Sitzung geladen. Kaum einen Monat zuvor hat die wissenschaftliche Gesellschaft in ihrem letzten Sitzungsbericht des Jahres 1895 eine spektakuläre „Vorläufige Mittheilung“ veröffentlicht. Die erste Publikation Wilhelm Conrad Röntgens „Über eine neue Art von Strahlen“. Noch am Neujahrstag 1896 hat der Würzburger Physiker 100 vorgedruckte Exemplare seines Berichts an Freunde und Kollegen verschickt. Und er hat der Schilderung seiner Entdeckung einige der Bilder beigefügt. Unter anderem eine Aufnahme der Hand seiner Frau Bertha, durchleuchtet von der „neue[n] Art von Strahlen“. Darauf zu sehen: Knochen und Ring.
Eine Sensation. Die Nachricht von Röntgens Entdeckung verbreitet sich in der Presse rasant. Der erste Zeitungsartikel in der Wiener Presse vom 5. Januar 1896 ist nach London telegrafiert worden. Am Abend darauf schon jubelt der „Standard“ über den „wunderbaren Triumph der Wissenschaft“. Per Tiefseekabel erreichen die Nachrichten am 8. Januar die Zeitungen in den USA. Was die Mitglieder der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft an diesem 23. Januar also erwartet?
Der Kaiser in Berlin weiß es. Am 11. Januar hatten die Zeitungen in der Hauptstadt bekannt gegeben, dass Professor Röntgen für den Sonntagnachmittag eine Einladung Wilhelms II. in den königlichen Palast zu Berlin erhalten habe. Der Würzburger Physiker möge dort seine Neuentdeckung vorstellen. Der deutsche Kaiser, an Wissenschaft und Technologie höchst interessiert, wollte unmittelbar eingeweiht und informiert werden, von Röntgen selbst.
„Kaiser Wilhelm ließ den Prof. Röntgen von Würzburg nach Potsdam eilen, um der königlichen Familie einen illustrierten Vortrag über seine angebliche Entdeckung, wie man das Unsichtbare fotografiert, zu halten“, hieß es in der New York Times am 19. Januar. Und nur eine Woche später fasste die Zeitung zusammen: „Röntgens fotografische Entdeckung monopolisiert zunehmend die wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Es wird bereits von zahlreichen erfolgreichen Anwendungen bei chirurgischen Schwierigkeiten aus verschiedenen Ländern berichtet, aber noch auffälliger sind die Beweise dafür, dass es die Methoden in vielen Abteilungen der metallurgischen Industrie revolutionieren wird.“
Was Wunder, dass die Zuhörer im Hörsaal der Universität applaudierten und der Protokollant der Sitzung höchst aufgeregt gewesen sein muss. Der erste öffentliche Vortrag Röntgens über die Entdeckung, die er am 8. November 1895 in seinem Labor gemacht hatte, stand an. Was sie nicht ahnen konnten: Es sollte seine einzige Vorlesung darüber bleiben. In den „Vorläufigen Mittheilungen“ war zu lesen gewesen, wie umsichtig und gründlich Röntgen über Wochen die „neue Art von Strahlen“, die er X-Strahlen nannte, in Experimenten untersucht hatte.
Und jetzt berichtete er den Mitgliedern der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft. Im Dezember 1849 war dieser Wissenschaftlerkreis zu Würzburg von Anatom Albert Koelliker, Pathologe Rudolf Virchow, Pharmakologe und Wissenschaftsorganisator Franz von Rinecker und Chemiker Johann Joseph von Scherer ins Leben gerufen worden. Nach den Irrungen der Heilkunde in der Zeit der Romantik wollten sie Medizin und Naturwissenschaften einander wieder näherbringen. Sie wollten niedergelassene Ärzte zu wissenschaftlicher Tätigkeit anregen, es sollte diskutiert und debattiert werden. Und Studenten sollten in den Veranstaltungen der Gesellschaft „ihre Lehrer mitten im Forschen belauschen“.
Und am 23. Januar 1896 lauschte die versammelte Gesellschaft im Auditorium des Physikalischen Instituts ihrem Mitglied Wilhelm Conrad Röntgen. Der Physiker demonstrierte in Experimenten die Wirkung der bislang unbekannten Strahlung. Er reichte Aufnahmen von der Hand seiner Frau und von metallenen Spulen und Gewichten in geschlossenen Holzkisten herum.
Die Wirkung der bislang unbekannten Strahlen demonstriert
Schließlich bat er den Präsidenten der Gesellschaft, den Geheimrat und Anatomieprofessor Albert von Koelliker, seine Hand mittels der X-Strahlen aufnehmen zu dürfen. Die Aufnahme muss wohl sofort am Institut entwickelt worden sein. Denn noch in der „hochbedeutsamen Sitzung“ wurde das scharf fokussierte Röntgenbild der beringten Koelliker-Hand herumgereicht.
Der Protokollant hält schließlich in seiner Aufzeichnung den großen Dank des Geröntgten fest: In den 48 Jahren seiner Mitgliedschaft in der Würzburger Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft habe er noch nie eine so großartige und bedeutsame Präsentation erlebt, sagt Koelliker. Und er endet mit einem dreifachen Hoch auf den Entdecker.
Das gesamte Publikum, so notiert es der Schreiber, stimmt begeistert ein. Koelliker macht schließlich den Vorschlag, die X-Strahlen künftig Röntgenstrahlen zu nennen. Erneut: großer Applaus! 125 Jahre nach Röntgens historischem, einzigartigem, einmaligem öffentlichen Vortrag ist jetzt – völlig überraschend – das handschriftliche Sitzungsprotokoll aufgetaucht. In gedruckter Form veröffentlicht und erhalten, ist jetzt auch die Tintenfassung zu sehen.
Eine junge Frau übergibt im Auftrag ihres Vaters zwei Bücher
„Das ist wirklich aus dem Nichts zu uns gekommen“, sagt Professor Manfred Gessler, der Kassenwart der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft, die es noch immer gibt. Der Inhaber des Lehrstuhls für Entwicklungsbiochemie erinnert sich, dass er vor ein paar Jahren einmal einen Anruf erhalten hatte, an einem Freitagabend. Er habe da noch alte Protokolle der Physico-Medica, teilte der anonyme Anrufer mit. Er sei gerade in Würzburg. Und fragte: „Wollen Sie die haben?“
Warum genau sich die Sache dann zerschlug . . . Gessler kann es nicht mehr sagen, jedenfalls wurde aus einem spontanen Treffen nichts. Und dann, Ende 2020: „Da stand plötzlich eine junge Frau bei uns im Sekretariat“, berichtet Manfred Gessler. Sie wolle zwei Bücher im Auftrag ihres Vaters übergeben, anonym. Sie brauche nur die Bestätigung, die beiden Bände tatsächlich abgegeben zu haben. „Einzigartig!“, sagt Gessler – noch immer verblüfft und begeistert – über die unerwartete Schenkung. Die Wissenschaftsgesellschaft hatte tatsächlich die Originalprotokolle zurückerhalten. Zwei Bände, DIN-A5-Format. Die Pappeinbände „rein äußerlich ein wenig in Mitleidenschaft geraten“, aber sonst vollständig erhalten.
Der erste Band beginnt im Jahr 1894 und reicht bis 1909, der zweite endet 1929. Fein säuberlich notierten die Schriftführer und Protokollanten darin, was in den jeweiligen Sitzungen behandelt und besprochen wurde. Manfred Gessler war sich mit Professor Manfred Schartl, dem Vorstand der Gesellschaft, schnell einig, dass beide Bände in der Universitätsbibliothek aufbewahrt werden sollten. In deren Buchbestand finden sich alle Publikationen der Physico-Medica, auch die gedruckten Veröffentlichungen der Sitzungsberichte.
„Außergewöhnliche Autographen“, sagt der Direktor der Unibibliothek, Dr. Hans-Günter Schmidt. Zahlreiche Schreiber und Schriftbilder sind in den beiden Bänden zu erkennen, teils sind Ausschnitte aus Veröffentlichungen und Zeitungsartikel eingeklebt. Wie bei jenem Eintrag im zweiten Band über eine Festsitzung vom 29. Januar 1921 – zum 25. Jahrestag jenes legendären Vortrags des Strahlenentdeckers.
Die beiden Bände dokumentieren nicht zuletzt die Bedeutung, die eine Fachgesellschaft wie die Physico-Medica für die Kommunikation und die Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse zur damaligen Zeit besessen habe, sagt Manfred Schartl. „Da wurden die neuesten Forschungen vorgestellt, da hat man diskutiert.“ Und die Sitzungsberichte wurden weltweit verbreitet, weil die einzelnen wissenschaftlichen Gesellschaften international untereinander in regem Schriftverkehr standen. „Man erkennt, wie Wissenschaft damals funktioniert hat – wie wissenschaftliche Ergebnisse kommuniziert und präsentiert wurden“, sagt Dr. Katharina Boll-Becht, die Leiterin der Abteilung Fränkische Landeskunde der Unibibliothek.
Die Unibibliothek wird alles digitalisieren
Zur weltweiten Verbreitung und Verfügbarkeit werden jetzt alle Publikationen der Gesellschaft von der Unibibliothek digitalisiert. „Perspektivisch stehen damit die für die Wissenschaftsgeschichte einzigartigen Dokumente der gesamten interessierten Öffentlichkeit digital zur Verfügung“, sagt Hans-Günter Schmidt.
Der Separatdruck von Röntgens erster Publikation über seine Entdeckung vom Dezember 1895 war übrigens so schnell vergriffen gewesen, dass der Würzburger Stahel-Verlag noch 1896 weitere vier Auflagen herausbrachte. Die Aufnahme von Geheimrat Koellikers Hand – sie wurde zusammen mit Röntgens „Zweiter Mitteilung“ im Anschluss an den Vortragsbericht in den Sitzungsprotokollen publiziert.
Und die Autografen im Pappeinband – nach der Digitalisierung werden sie in der Handschriftenabteilung aufbewahrt. Ohne zu wissen, wo sie die vergangenen Jahrzehnte über lagen.