
Im November 1930 demonstrierten aufgeputschte Nazis gegen das Gastspiel einer russischen Schauspieltruppe im Stadttheater. Es gab mehrere Verletzte. Die Filmversion des damals gezeigten Stücks „Der Dibbuk“ ist jetzt erstmals in Würzburg zu sehen.
Ein Mädchen verliebt sich in einen Mann, doch die beiden können nicht zueinander kommen, denn ihr Vater hat sie für einen anderen bestimmt. Der Geliebte stirbt vor Verzweiflung. An seinem Grab lädt ihn die junge Frau zu ihrer Hochzeit ein. Als Geist („Dibbuk“) fährt der Eingeladene in den Körper des Mädchens, durchaus mit ihrer Zustimmung. Am Schluss ist auch sie tot, doch wenigstens im Tod sind beide nun für immer vereint.
Das ist, auf das Wesentliche reduziert, der Inhalt des Stücks „Der Dibbuk“ von Salomon Anski (1863-1920), das am 19. November 1930 im Würzburger Stadttheater aufgeführt wurde. Eine eher für Volkskundler interessante Geschichte vom Glauben und Aberglauben in einem jüdischen Schtetl Osteuropas. Dennoch sprachen die Würzburger Nationalsozialisten, angeführt vom NSDAP-Landtagsabgeordneten Otto Hellmuth, von „Kulturbolschewismus“.
Denn: Die Truppe, die den „Dibbuk“ aufführte, die jüdische Schauspielcompagnie Habima, kam aus Russland. Die Nazis inszenierten rund um das Gastspiel den größten Theaterskandal, den Würzburg je erlebt hat, und die brutalsten antisemitischen Ausschreitungen vor 1933.
Im Lauf des 19. November, einem Mittwoch, wurde in der Stadt und vor allem vor der Universität ein Flugblatt verteilt, auf dem die NSDAP-Ortsgruppe zum Protest gegen „diese Kulturschande“ aufrief. Die NSDAP war drittstärkste Kraft im Würzburger Stadtrat, kam fast an die SPD heran. Jetzt sah Otto Hellmuth die Chance, die Hitler-Anhänger erstmals auf der Straße randalieren zu lassen.
Der Aufruf tat seine Wirkung. Eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung hatten sich bereits Hunderte meist halbwüchsige Demonstranten, darunter viele Studenten, vor dem Theater versammelt, die „Deutschland erwache, Juda verrecke!“ schrien. Die Besucher mussten durch die grölende Menge Spießruten laufen. Um 20 Uhr verstärkten die Nationalsozialisten ihr akustisches Störfeuer noch. Sie schlugen mit Stöcken und Fäusten gegen die Türen und Fensterläden des Theaters, das sich damals schräg gegenüber vom heutigen Mainfranken Theater am Eingang der Theaterstraße befand.
Einer der Rädelsführer brüllte: „Nieder mit den Juden, raus mit den Hebräern! Schlagt sie tot!“ Einige versuchten, in das Theater einzudringen, was Polizeibeamte gerade noch verhindern konnten. Kurz vor 20.30 Uhr erhielten die zur Verteidigung des Theaterinneren aufgebotenen Polizisten endlich Verstärkung. Die Demonstranten wurden aus der Umgebung des Hauses gedrängt. Das Johlen jenseits der Absperrung dauerte an, doch die Vorstellung konnte mit halbstündiger Verspätung endlich beginnen.
Das Stück bot den überwiegend jüdischen Theaterbesuchern einen kulturhistorischen Blick in die Vergangenheit eines Teils der eigenen Kultusgemeinde. Viele Würzburger Juden, mochten sie streng religiös oder eher lax in der Religionsausübung sein, stammten aus Osteuropa oder hatten Vorfahren, die von dort stammten; das Stück interessierte sie, auch wenn sie nicht an Geister glauben.
Die 17-jährige Paula Arensberg, die damals die Oberrealschule, das heutige Röntgen-Gymnasium, besuchte, war unter den Zuschauern. „Ich erinnere mich an meine schreckliche Angst, dass wir alle in einer Falle waren, dass keiner uns beschützte und dass wir nicht lebendig aus dem Theater herauskämen,“ schrieb sie später.
„Wie ich nach Haus kam, weiß ich nicht mehr. Nur dass es ein oder zwei Uhr morgens war und die Angst mich tagelang nicht verließ.“
Paula Arensberg, 17-jährige Schülerin
Die folgenden Ereignisse sind als „Habima-Skandal“ in die Würzburger Stadtgeschichte eingegangen. Der Polizei war es nicht gelungen, die rund Tausend Demonstranten von den Hauptstraße, die vom Theater wegführten, abzudrängen. Stattdessen versperrten die Nationalsozialisten Theater- und Maxstraße, so dass viele Besucher durch dunkle Nebengassen gehen mussten. Dort kam es zu zahlreichen brutalen Übergriffen.
Junge Männer schrien eine Mutter, ihren Sohn und ihre Tochter an: „Seid ihr koscher?“ Der Sohn erhielt einen heftigen Schlag ins Gesicht. In der Domerpfarrgasse überfiel ein halbes Dutzend junger Männer einen kaufmännischer Angestellter. Er wurde von der ganzen Truppe derart verprügelt, dass er zu Boden stürzte, wo er noch mit den Füßen getreten wurde. Er erlitt Verletzungen an der linken Kieferseite, an der Nase, am rechten Ohr, an der Oberlippe und an der Stirn und musste auf der Sanitätswache verbunden werden. In der Eichhornstraße misshandelte eine Gruppe junger Männer einen Ingenieur aus Nürnberg mit Faustschlägen, nachdem eine Demonstrantin gerufen hatte: „Das ist ein Jude, schlagt ihn tot!“
„Wie ich nach Haus kam, weiß ich nicht mehr“, schrieb Paula Arensberg später. „Nur dass es um ein oder zwei Uhr morgens war und die Angst mich tagelang nicht verließ.“
Am nächsten Tag verurteilten die Würzburger Zeitungen die Ausschreitungen in ausführlichen Artikeln. Das katholische Volksblatt fand es „merkwürdig“, dass die Polizeiverwaltung dem „widerlichen Skandal“ nicht energischer entgegentrat. Das SPD-Organ Fränkischer Volksfreund sprach vom „Bankrott der Ordnung“ und vom „geschändeten Ansehen Würzburgs“.
Am 3. Februar 1931 begann der Prozess vor dem Schöffengericht. Die Anklageschrift beschuldigte zehn junge Männer und eine 20-jährige Kontoristin, von denen fünf vorbestraft waren, des Landfriedensbruchs. Otto Hellmuth instruierte vom Zuhörerraum aus Zeugen und Verteidiger. Die Aussagen der Beschuldigten waren von großer Dreistigkeit. Der 24-jährige Friseur Edgar Huller behauptete beispielsweise, er sei ganz zufällig in die Demonstration geraten. Ein Medizinstudent erklärte, er habe nur mitgeschrien, weil er „sturzbetrunken“ gewesen sei.
Die Beweisaufnahme mit der Vernehmung von rund 50 Zeugen dauerte zwei Tage. Nach ihrem Abschluss plädierte Staatsanwalt Karl Seelos auf Zubilligung mildernder Umstände, da das Motiv des Protestes „kein unehrenhaftes“ gewesen sei. Nach dreieinhalbstündiger Beratung fällte das Schöffengericht am 5. Februar gegen 12 Uhr sein Urteil, das in sieben Fällen noch deutlich unter den Anträgen des Staatsanwalts blieb. Die Gesamtgefängnisstrafe belief sich auf lediglich 15 1/2 Monate, drei Angeklagte gingen straflos aus.
In der mehr als einstündigen Urteilsbegründung äußerte auch Amtsgerichtsdirektor Friedrich Sauer Verständnis für die Demonstranten, „weil sie nicht aus gemeiner, niedriger, verbrecherischer Gesinnung gehandelt, sondern nur der Leitung ihrer Partei Folge geleistet“ hätten.
In einer Berufungsverhandlung am 11. März wurden die Strafen teilweise nochmals reduziert.
Im Jahr 1937 verfilmte der polnische Regisseur Michal Waszynski den „Dibbuk“ in jiddischer Sprache. Er hatte bei F. W. Murnau in Berlin assistiert und ließ sich von dessen expressionistischer Filmsprache beeinflussen. „Der Dibbuk“ läuft am Sonntag, 17. Februar, um 11 Uhr in der Originalfassung mit englischen Untertiteln im Central Programmkino in der Hofstraße als erster Film der Reihe „Wo Menschen und Bücher lebten – Jüdisches Leben in Osteuropa“ (siehe Infokasten). Zu Beginn wird eine ausführliche Einführung in die Handlung gegeben.
Es ist das erste Mal, dass „Der Dibbuk“ seit 1930 in Würzburg wieder zu sehen ist.
Vortrag: Bereits am Sonntag, 10. Februar, hält der Historiker und Main-Post-Redakteur Roland Flade um 11 Uhr im Central Programmkino einen Vortrag über die Ausschreitungen von 1930 und den Habima-Prozess. Er geht auch auf das Stück „Der Dibbuk“ und seine große Wirkung bis zum heutigen Tag ein.
„Jüdisches Leben in Osteuropa“ im Central Programmkino
Eröffnungsveranstaltung Sonntag, 10. Februar, 11 Uhr
„Würzburg und Der Dibbuk“: Vortrag von Roland Flade über das Stück, die Ausschreitungen, den Prozess und den Film. Musik: Ella Bulatova.
Der Dibbuk
Sonntag, 17. Februar, 11 Uhr (Polen 1937), Original mit engl. Untertiteln
Die Kommissarin
Sonntag, 24. Februar, 11 Uhr (UdSSR 1967), Original mit deutschen Untertiteln. Russland 1917. Im Land herrscht Bürgerkrieg. Eine politische Kommissarin der Roten Armee verliebt sich in einen Kampfgefährten und wird schwanger. Bei einer jüdischen Familie einquartiert, denkt sie über ihr Leben und die Ideale der neuen Gesellschaft nach. Der Film war lange verboten.
Zakat – Sonnenuntergang
Sonntag, 3. März, 11 Uhr (UdSSR 1990, Original mit deutschen Untertiteln). Ein irrwitziger Gangsterfilm im Odessa der 1920er Jahre.
Ivan und Abraham
Sonntag. 7. April, 11 Uhr (Frankreich 1993, Original mit deutschen Untertiteln. Beschwört die untergegangene Welt der Juden in Osteuropa.