Der Würzburger Virologe Professor Carsten Scheller forscht seit über 20 Jahren am Human Immunodeficiency Virus, kurz HIV. Er begann Mitte der 1990er Jahre als Doktorand, als HIV ein sehr präsentes und drängendes Thema war. Anfang der 1980er Jahre war das Virus zum ersten Mal aufgetaucht. Und, sagt Scheller, „schnell wurde klar, dass es der Auslöser für eine der größten Virusepidemien sein würde, die wir kennen“. Damals waren weder eine wirklich gute Therapie noch ein Impfstoff in Sicht. „Aus der Perspektive eines jungen Wissenschaftlers natürlich sehr spannend.“ An diesem Samstag findet zum 40. Mal der Welt-Aids-Tag statt. Anlass, den Virologen nach dem Stand der Forschung zu fragen.
Frage: Aus Sicht des Wissenschaftlers und Virologen: Was fasziniert Sie am HI-Virus?
Prof. Carsten Scheller: Die Faszination liegt ein bisschen in der Hartnäckigkeit des Virus, mit der wir es hier zu tun haben. Es ist so eine Art virologischer Endgegner. Anders als bei den meisten Virusinfektionen, die wir kennen, gibt es kaum jemanden, der in der Lage ist, die Infektion ohne Hilfe von Medikamenten zu überleben. Faszinierend dabei ist auch, dass dieser Kampf zwischen Virus und Immunsystem sich über Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte hinzieht, bevor er verloren wird. Wer sich mit HIV beschäftigt, muss deshalb auch zwangsläufig das Immunsystem erforschen, um zu verstehen, warum dieses Rennen so knapp, aber doch regelmäßig, verloren wird. Zum Glück haben wir heute ja eine Therapie zur Verfügung, die dafür sorgt, dass der Patient jetzt auf jeden Fall das Rennen gewinnt.
Wie gut ist das Virus denn erforscht? Und was wissen Sie noch nicht?
Scheller: Über HIV wissen wir schon sehr viel. Viel mehr, als über jedes andere Virus. Das ist ein beeindruckender Erfolg, der innerhalb relativ kurzer Zeit von sehr vielen Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen und Universitäten, Forschungszentren und der pharmazeutischen Industrie ermöglicht wurde. Es bleiben aber noch ein paar offene Fragen, auf die wir gerne eine Antwort hätten. Dazu gehört zum Beispiel, wie ein wirkungsvoller Impfstoff aussehen könnte. Auch beschäftigt uns die Frage, ob wir eines Tages HIV-Patienten von der Infektion heilen können, so dass sie nicht mehr auf die Einnahme von Medikamenten angewiesen sind.
Was erforschen Sie selbst in Würzburg konkret?
Scheller: In meiner Arbeitsgruppe untersuchen wir die Reaktion des Immunsystems auf das Virus. Wir beschäftigen uns mit der Frage, welche Immunantworten dazu geeignet sind, das Virus besser zu kontrollieren, und welche eher schlecht sind. Erstaunlicherweise geht nämlich ein ganz wesentlicher Mechanismus der Schädigung des Körpers vom Immunsystem selbst aus. HIV stammt ursprünglich von afrikanischen Affen. Deren Immunsystem geht mit der Infektion viel entspannter um, als das menschliche. Diese Affen bekommen auch kein Aids, wenn sie sich mit dem Virus infizieren. Wir untersuchen aber auch die Frage, welche Eigenschaften Patienten haben, die in der Lage sind, das Virus selbstständig oder zumindest über einen sehr langen Zeitraum zu kontrollieren und ob sich aus diesen Erkenntnissen Hinweise auf die Impfstoff-Entwicklung ableiten lassen. Leider ist HIV aber sehr variabel, das Immunsystem läuft der Entwicklung des Virus meist hinterher.
Wie schafft es das Virus, sich ständig zu verändern und „unsichtbar“ zu machen?
Scheller: Das liegt an der Fehlerhaftigkeit bei der Virusvermehrung. HIV ist nicht sehr gut darin, sein Erbgut fehlerfrei zu kopieren. Es hat gewissermaßen eine ziemlich ausgeprägte Rechtschreibschwäche, die Kopien von sich selbst sehen immer leicht anders aus als das Original. In der Tat ist diese Schreibschwäche derart stark ausgeprägt, dass fast jedes neu gebildete Virus etwas anders ist als das ursprüngliche Virus, das eine Zelle infiziert hat. Unser Immunsystem braucht etwa drei bis sechs Wochen, um sich auf einen Erreger komplett einzustellen, und in dieser Zeit ist HIV bereits wieder ein paar Schritte davongeeilt. Hinzu kommt, dass sich das Virus mit einer Schicht von Zuckermolekülen tarnt, wie sie der Körper selbst auch verwendet. Dadurch sieht es von außen betrachtet gar nicht wie ein Fremdkörper aus. Es wird für das Immunsystem dadurch gewissermaßen unsichtbar, genauso, wie Harry Potter unter seinem Tarnumhang – zumindest solange es sich außerhalb der Körperzellen im Blutplasma befindet.
Magie wie bei Harry Potter? Heißt das: Ein wirksamer Impfschutz ist nicht in Sicht? War man zu optimistisch, was die Entwicklung betrifft?
Scheller: Einer der Gründe ist sicherlich dieser Tarnumhang aus Zuckermolekülen, der den Angriff durch neutralisierende Antikörper verhindert. Dann die enorme Variabilität des Virus. Alle bisher zur Verfügung stehenden Impfstoffe wie gegen Röteln, Masern, Mumps oder Influenza bauen auf dem Prinzip auf, dass unser Immunsystem Antikörper bildet, die die Viren sofort nach Eintritt in den Körper neutralisieren und unschädlich machen. Bei HIV funktioniert genau das leider nicht. Die gebildeten Antikörper sind in der Regel komplett wirkungslos.
Das heißt: Die klassische Impfstoffentwicklung klappt bei HIV gar nicht?
Scheller: Eine Impfung simuliert eine echte Infektion, ist aber für den, der sich impfen lässt, vollkommen harmlos, weil entweder ein abgeschwächtes Virus oder nur einzelne Bruchstücke verabreicht werden. Das reicht aus, damit das Immunsystem eine Immunantwort ausbilden kann, die in der Lage ist, eines Tages den echten Erreger wirkungsvoll zu neutralisieren – falls man mit diesem in Kontakt kommt. Ein Impfstoff hinterlässt also eine schützende Immunität, genauso, wie eine durchgemachte Infektion mit einem echten Virus ebenfalls vor einer weiteren Infektion mit diesem Erreger schützt. Eine Impfung simuliert also den Zustand nach einer bereits durchgemachten Infektion. Und jetzt kommt das Problem: Unser Körper ist nicht in der Lage, gegen HIV eine Immunantwort zu bilden, die vor einer weiteren Infektion mit HIV schützt. Die Zahl derer, die das Virus selbstständig kontrollieren können, ist ohnehin schon sehr klein. Und inzwischen wissen wir, dass auch bei diesen wenigen Patienten eine Zweitinfektion mit einem neuen HIV dazu führen kann, dass diese Patienten die Kontrolle über die Infektion verlieren. Die Hürde für die Entwicklung eines Impfstoffes liegt bei HIV also leider ziemlich hoch.
Aber trotzdem sprechen Sie von Fortschritten und bedeutenden Erfolgen in kurzer Zeit.
Scheller: Der wichtigste Fortschritt ist natürlich die Entwicklung von Medikamenten, die dazu geführt haben, dass Patienten mit einer HIV-Infektion nicht mehr an Aids sterben, sondern inzwischen sogar eine normale Lebenserwartung haben. Wir gehen heute davon aus, dass jemand, der sich in einem Alter von sagen wir 20 Jahren mit HIV infiziert und antivirale Medikamente einnimmt, mit der gleichen Wahrscheinlichkeit 90 Jahre alt werden kann, wie jemand, der keine HIV-Infektion hat. Ein wirklich großer Meilenstein ist, dass diese Medikamente jetzt weltweit zur Verfügung stehen und damit insbesondere in den armen Ländern Subsahara-Afrikas, in denen die HIV-Infektion am stärksten verbreitet ist. Das war nur möglich, weil viele Pharmafirmen sich bereit erklärt haben, ihre Medikamente für den afrikanischen Markt zu sehr niedrigen Preisen anzubieten. Diese Medikamente werden dann durch Hilfsfonds bezahlt, so dass sie für Patienten in Afrika vollkommen kostenlos sind. Ziel ist es, dass in wenigen Jahren weltweit 90 Prozent aller HIV-Patienten therapiert werden können – momentan sind wir bei einer Therapieabdeckung von etwas über 50 Prozent.
Braucht es – angesichts der guten Therapien – dann überhaupt einen Impfstoff?
Scheller: Diese Frage stellt sich in der Tat. Durch die Therapie wird nämlich nicht nur bewirkt, dass der einzelne HIV-Patient gesund bleibt, sondern es wird außerdem auch verhindert, dass das Virus auf andere Personen übertragen werden kann. Das gilt natürlich nur, solange die Medikamente regelmäßig eingenommen werden. Wenn es nun gelingt, weltweit einen Großteil der HIV-Patienten zu therapieren, wird dieses die Zahl der Neuinfektionen spürbar senken. HIV wäre dann erstmals wieder auf dem Rückzug. Allerdings wissen wir auch, dass etwa jede zweite HIV-Infektion bereits in den ersten sechs Wochen weitergegeben wird. Zu dem Zeitpunkt wissen natürlich die wenigsten Patienten, dass sie überhaupt infiziert sind. Das bedeutet, dass in dieser besonders riskanten Frühphase der Infektion viele Patienten auch in Zukunft das Virus weitergeben können, weil sie noch keine Therapie erhalten. Nur mit Therapie allein wird sich die Epidemie zwar eindämmen, aber nicht ganz beseitigen lassen. Das schafft nur eine Impfung.
In den vergangenen Jahren war ja immer mal von „Durchbruch“ die Rede. Haben Sie schon mal an den Durchbruch „geglaubt“?
Scheller: Durchbrüche gibt es viele. Allerdings sind wissenschaftliche Durchbrüche in der Regel sehr weit entfernt von einer Anwendbarkeit, und die meisten schaffen es ja auch gar nicht bis dorthin. Ich bin bei Erfolgsmeldungen aus der Forschung deshalb natürlich generell sehr skeptisch. Das liegt eigentlich auch in dem Naturell eines Wissenschaftlers. Wir haben gelernt, Dinge kritisch zu hinterfragen, nur so ist wissenschaftlicher Fortschritt überhaupt erst möglich. Allerdings muss man natürlich auch die Chancen erkennen, die sich bieten und diese dann konsequent ausloten.
Apropos Chancen. Die Geburt eines Babys, das durch Genmanipulation lebenslang vor einer Infektion mit HIV geschützt ist: Wie sehr hat sie die Nachricht aus China entsetzt – oder gefreut?
Scheller: Ich kenne zu diesem Fall noch nicht die Einzelheiten. Nach meinem Kenntnisstand soll eine Forschungsgruppe in China bei menschlichen Embryonen mithilfe der Geneditierung das Erbgut in einem Rezeptormolekül für HIV so verändert haben, dass die daraus geborenen Kinder gegenüber einer HIV-Infektion resistent sein sollen. Mich hat diese Nachricht genauso wie wahrscheinlich die allermeisten anderen Wissenschaftler entsetzt. Wir haben international noch keinen Konsens darüber gefunden, wann und ob überhaupt ein Eingriff in die Keimbahn eines Menschen erlaubt, gerechtfertigt, sicher oder angemessen ist. Wir sind noch weit entfernt davon abschätzen zu können, welchen Risiken und möglichen Schäden und Spätfolgen diese Kinder ausgesetzt sein werden.
Hielten Sie es überhaupt für möglich, dass wirklich ein genmanipuliertes Baby geboren wurde?
Scheller: Von der technischen Seite gesehen ist das sicherlich nicht besonders schwierig. Mit Versuchstieren in der Forschung ist Genome Editing bei Embryonen sogar schon Routine geworden. Beim Menschen ist die Situation aber aus ethischen Gründen viel komplizierter. Was passiert, wenn bei einem solchen Eingriff Schäden auftreten, die nicht beabsichtigt sind? Schäden, unter denen dann die geborenen Kinder zu leiden haben, obwohl sie diesem Eingriff niemals zugestimmt haben? Schäden, die dann auch auf nachfolgende Generationen weitervererbt werden würden, weil die gentechnischen Veränderungen auch die Keimbahn betreffen. Das alles sind Fragen, die noch nicht geklärt sind, und in Deutschland wären solche Experimente deshalb auch aus guten Gründen verboten.
Sie verurteilen den Einsatz von Gentechnik also?
Scheller: Nein, Gentechnik im Allgemeinen halte ich für sehr sinnvoll. Und sie ist aus unserem Leben auch nicht mehr wegzudenken. Unter Gentechnik versteht man ja lediglich die gezielte genetische Manipulation an einem Lebewesen – es ist, wenn man so will, eine Weiterentwicklung der klassischen Züchtung. In den meisten Fällen, in denen Gentechnik zum Einsatz kommt, handelt es sich um Bakterien, die wir im Labor dazu bringen, bestimmte Proteine herzustellen, die wir dann genauer untersuchen wollen. Jede Studentin, jeder Student der Biologie, Biochemie oder Biomedizin wird im Laufe des Studiums dutzendfach mit gentechnischen Methoden arbeiten. In der Virologie wird jedes Virus, an dem man forscht, gentechnisch verändert, um die Funktion der einzelnen Gene zu verstehen. Wir haben in Deutschland ein Gentechnik-Gesetz, das den Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen regelt und das sich bewährt hat. Die Anwendung von Gentechnik in der Agrarwirtschaft kann sehr sinnvoll sein, um zum Beispiel Schädlingsbekämpfungsmittel einzusparen. Auch beim Menschen gibt es viele sinnvolle Indikationen, um Gentherapie zu versuchen. Wir sind hier zwar leider noch in den Kinderschuhen, aber es ist absehbar, dass Gentherapie in Zukunft auf breiterer Basis kommen und auch erfolgreich sein wird. Momentan handelt es sich allerdings noch um experimentelle Therapien.
Gibt es aus Sicht des Virologen aktuell einen Erreger, der mehr Sorgen und Kummer bereitet als HIV?
Scheller: HIV steht natürlich sehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In Subsahara-Afrika ist die HIV-Infektion immer noch die Haupt-Todesursache unter den Infektionserregern und etwa eine Millionen Menschen sterben jährlich weltweit an der Infektion. Aber es gibt auch andere Krankheitserreger, die meist viel weniger Beachtung finden: In Deutschland zum Beispiel starben in der vergangenen Saison 2017/2018 wahrscheinlich mehr als 20.000 Menschen an einer Infektion mit dem Grippevirus. Das ist übrigens ein Vielfaches mehr, als die Zahl der HIV-bedingten Todesfälle in Deutschland. Gegen das Grippevirus kann man sich übrigens impfen lassen, und der Zeitpunkt ist jetzt optimal. Oder das Beispiel Masern: Im letzten Jahr hatten wir fast 1000 Fälle in Deutschland, die zu vermeiden gewesen wären, wenn alle Kinder rechtzeitig vor dem ersten und zweiten Geburtstag gegen Masern geimpft werden würden. Was viele nicht wissen: Masern sind keine harmlose Erkrankung und etwa drei von 1000 erkrankten Kindern sterben daran. Seit vielen Jahren forschen wir nun schon an einem Impfstoff gegen HIV, leider bislang ohne Erfolg. Umso schöner wäre es, wenn bereits verfügbare Impfstoffe gegen andere Viren konsequent genutzt werden würden.