Es ist ein sonniger Tag. In den Glasfronten der Einkaufsläden spiegelt sich der blaue Himmel, Passanten sind unterwegs, bummeln, quatschen und lachen. Mittendrin steht ein Mann in gestreiftem Pullover und heller Hose, sein Gesicht zieren schwarze Bartstoppeln und eine schmale Brille. Schweigend blickt er in die Schönbornstraße, lässt Straßenbahnen, Fahrradfahrer und Gespräche an sich vorbeiziehen. „Wenn man im Frieden lebt, muss man es genießen“, sagt der 31-Jährige dann. Man kennt diese Worte, hat sie oft gehört. Doch wenn man Ismail in die dunklen Augen blickt, seine zitternden Lippen sieht, weiß man, dass sie mehr sind als eine Floskel.
Ismail, der eigentlich anders heißt, kommt aus Latakia, einer Hafenstadt in Syrien. „Es ging uns gut“, sagt er über seine Jugend. Mit vier Schwestern und der Mutter habe er in einem Haus gelebt, alle hätten zur Schule gehen können. In Damaskus habe er Journalismus studiert, erzählt er beim Spaziergang durch die Innenstadt. Doch schnell habe er die Grenzen der Freiheit gespürt. „Schreibe über Sport, nicht über Politik“, habe man zu ihm gesagt, Meinungsfreiheit habe es nicht gegeben.
Als er in die Redaktion der Main-Post in der Schönthalstraße kommt, schaut er sich kurz um. Doch es sind nicht die Äußerlichkeiten, die ihn interessieren. Als Themen, Vorgehensweise und Rechercheschritte besprochen werden, wird der 31-Jährige hellhörig. „Dass man hier die Politiker befragen, nachforschen und frei schreiben kann – das ist etwas Besonderes“, sagt er. In Syrien sei das schon vor Beginn des Bürgerkriegs unmöglich gewesen.
„Wir hatten Frieden, aber keine Freiheit“ – ein Zustand, den Ismail nun wieder lebt. Seit einem knappen Monat wohnt er im Zellerauer Zelt. „Es geht uns gut dort“, sagt er. Er habe ein Bett, zu essen und zu trinken, es gebe keine Waffen, keinen Krieg. Und doch habe er Angst. Um seine Mutter und seine Schwestern in Syrien und vor seiner eigenen Zukunft. Das sind auch die Gründe, warum er weder seinen Namen nennen, noch sein Gesicht zeigen will. Ismail erlebt jetzt ein freies Land, doch frei ist er noch längst nicht.
„Zuhause ist es schwieriger geworden.“ Der 31-Jährige spielt nervös an seiner Brille, die Miene wird steif. Der arabische Frühling, beginnt er, habe die Syrer dazu gebracht, Freiheit zu fordern. „Wir waren auf der Straße, friedlich“, erzählt er. Doch dann sei die Lage eskaliert. „Diktator Assad ist brutal“, sagt der Journalist über sein Staatsoberhaupt. Freie Presse habe es nicht gegeben, wer sich gewehrt habe, sei verhaftet worden – „oder schlimmer“.
Drei Jahre lang habe er sich seine Flucht überlegt. Sei erst ins Landesinnere gezogen, in einen Bereich, wo Assads Truppen „nicht so präsent“ gewesen seien. „Free army“ sagt er, wenn er über das Gebiet nahe der türkischen Grenze spricht. Dort habe er sich mit Freunden eine Kamera und Tonausrüstung gekauft. „Wir haben Filme für einen arabischen Sender gedreht.“ Dieser habe sie als Freie Mitarbeiter bezahlt, sie Dokumentationen filmen lassen. Über den Bürgerkrieg und das Leben der Menschen zwischen Armut, Angst und Aggression.
„In dem Dorf haben wir gewohnt“, sagt Ismail, holt sein Smartphone aus der Tasche und spielt einen Film ab. Zu den arabischen Erklärungen eines Mannes sieht man eine kleine Wasserstelle. Immer mehr Menschen treten ins Bild, versuchen an die wenigen Tropfen zu kommen. Ismail drückt weiter. Der nächste Film zeigt Kinder, die auf der Straße leben. Mit nichts außer ihren dreckigen Kleidern. „Sie sind obdachlos“, erklärt er. Die Eltern seien getötet worden, die Häuser verbrannt. Das Problem an der „Free army“ sei, dass man nie wisse, wer Freund ist, wer Feind. „Jeder ist bewaffnet“, sagt Ismail, als er die Redaktion verlässt.
Der Krieg in Syrien ist kompliziert, es ist ein Kampf von Kulturen, Religionen und Machthabenden. Gewinner gibt es keine. Seit Beginn des Bürgerkrieges 2011 sind weit über 200 000 Menschen gestorben. „Ich glaube nicht, dass es bald vorbei ist“, sagt der Journalist. Zu viele Gruppen wollen an die Macht. Zu viele Städte wurden zerstört. „Wie hier.“ Ismail steht mittlerweile im Erdgeschoss des Grafeneckart im Würzburger Rathaus. Sein Blick streift über die Nachbildung der zerstörten Stadt 1945, beim Blick auf die Fliegerbomben erstarrt er. „Die kommen in Syrien vom Himmel, von überall.“
Wenn keine Bomben mehr von den Flugzeugen abgeworfen werden, kämen die Terroristen des Islamischen Staats, des IS. „Anfangs haben sich einige ihnen angeschlossen“, erzählt der 31-Jährige. Auch Freunde von ihm seien der Verlockung auf ein besseres Leben, auf überhaupt ein Leben, gefolgt. Sie dachten, dass die Gruppe ihnen Sicherheit gebe, doch stattdessen wuchs die Brutalität.
„Ich bin Muslim, mache mir aber nicht so viel aus Religion“, sagt Ismail. Die Terroristen seien in seine Wohnung gekommen, hätten die Kameraausrüstung mitgenommen. Als er merkte, dass er auch im Landesinneren nicht sicher war, holte er sein gesamtes Erspartes, ging er mit nichts außer seinen Kleidern am Leib nach draußen – und floh.
Zu Fuß über die türkische Grenze, im aufblasbaren und überfüllten Boot nach Griechenland, dann weiter nach Mazedonien und Serbien. Immer wieder nutzte der 31-Jährige teure Schleuser, um über Grenzen zu kommen. Immer wieder zahlte er Geld, um in Transportern oder PKws mitgenommen, geschmuggelt zu werden. „Ich bin tagelang gelaufen“, sagt Ismail, fährt mit seinem Finger über die Landkarte auf seinem Handy. Überall habe er andere Flüchtlinge getroffen, Jugendliche, Frauen, Männer und Kinder.
„Man hatte immer Angst davor, dass die Polizei einen erwischt.“ Als er in Deutschland ankommt, sind von seinen ursprünglichen 3000 Euro noch sieben übrig.
München, Wertigen, Schweinfurt – und dann Würzburg. „Die Menschen hier machen das Zelt lebenswert“, sagt er über die Zellerauer. Jeden Tag lerne er neue Vokabeln, bald möchte er auf Deutsch sprechen und schreiben können. Die erste Hürde hat er bereits geschafft, sein Asylverfahren läuft. Wie es weitergeht, weiß Ismail immer noch nicht. Sein größter Wunsch ist es, in Würzburg zu bleiben und zu arbeiten. Als er auf der Alten Mainbrücke steht, holt er sein Handy aus der Tasche, gibt etwas in den Übersetzer ein und liest dann langsam und fast akzentfrei vor: „Danke, dass ich hier in Frieden leben darf.“